Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
gehalten.
»Hier ist eine merkwürdige Inschrift«, sagte der ältere Junge.
»Sieh mal, Diogenes.«
Die kleinere Gestalt trat vorsichtig näher und las:
ERASMUS LONGCHAMPS PENDERGAST
1840 bis 1932 – De mortiis aut bene aut nihil
»Weißt du, von wem das ist?«
»Horaz?«, antwortete der Jüngere. »›Über die Toten … hm … sprich Gutes oder schweige.‹«
Nach kurzem Schweigen sagte der ältere Junge, und es klang etwas herablassend: »Bravo, kleiner Bruder.«
»Was in seinem Leben wohl passiert ist, über das niemand sprechen soll?«, fragte Diogenes.
Pendergast erinnerte sich, dass wegen der Lateinkenntnisse eine Rivalität zwischen den Brüdern bestand – eine Rivalität, bei der er am Ende deutlich unterlag.
Sie gingen weiter zu einem reich geschmückten Doppelgrab, einem Sarkophag im römischen Stil; obenauf lagen ein Mann und eine Frau, in Marmor gehauen; beide waren im Tode aufgebahrt, die Hände über der Brust gekreuzt.
»Louisa de Nemours Prendergast. Henri Prendergast.
Nemo nisi mors
«, las der ältere Junge. »Mal sehen … Das muss heißen: ›Bis dass der Tod uns scheidet‹.«
Der kleinere Junge war schon zu einem anderen Grabstein gegangen; er ging in die Hocke und las:
»Multa ferunt anni venientes commoda secum, multa recedentes adimiunt.«
Er blickte auf. »Na, Aloysius, wie übersetzt du das wohl?«
Ein Schweigen entstand; dann kam die Antwort, tapfer zwar, aber ein wenig unsicher. »›Viele Jahre kommen, um uns Behagen zu schenken, viele zurückliegende Jahre vermindern uns.‹«
Die Übersetzung wurde mit einem höhnischen Kichern quittiert. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Natürlich ergibt das Sinn.«
»Nein, tut es nicht. ›Viele zurückliegende Jahre vermindern uns.‹ Das ist Quatsch. Ich glaube, der Satz bedeutet so etwas wie: ›Die Jahre, wenn sie vor uns liegen, bringen viele Tröstungen. Wenn sie hinter uns liegen, dann …‹« Er hielt inne.
»Adimiunt?«
»Genau, wie ich gesagt habe: vermindern«, sagte der ältere Junge.
»Wenn sie hinter uns liegen, vermindern sie uns«, beendete Diogenes seine Übersetzung. »Mit anderen Worten: Wenn man jung ist, bringen die Jahre Gutes. Aber wenn man alt ist, nehmen sie einem alles wieder weg.«
»Das macht auch nicht mehr Sinn als meine Übersetzung«,sagte Aloysius mit Verärgerung in der Stimme. Er ging weiter, zum hinteren Ende der Nekropolis, und las auf seinem Weg die Namen und Inschriften von weiteren Grabmalen vor. Am Ende der Sackgasse blieb er vor einer Marmortür mit einem verrosteten Metallgitter stehen. »Schau dir mal dieses Grab an«, sagte er.
Diogenes stellte sich neben seinen Bruder und hielt seine Kerze näher an die Tür. »Wo ist denn die Inschrift?«
»Da ist keine. Aber es ist mit Sicherheit eine Gruft. Das muss eine Tür sein.« Aloysius zog an dem Gitter. Nichts. Er drückte dagegen, zog noch einmal daran, dann hob er einen kleinen Marmorstein auf und fing an, damit den Rand abzuklopfen. »Vielleicht ist die Gruft leer.«
»Vielleicht ist sie für uns bestimmt«, sagte der jüngere Junge, in dessen Augen auf einmal ein dämonisches Funkeln stand. »Dahinter ist es hohl.« Aloysius verstärkte sein Klopfen und zog wieder heftig am Gitter – bis es sich plötzlich unter lautem Knirschen öffnete. Beide Jungen blieben verängstigt stehen.
»O Mann, dieser
Gestank!
« Diogenes wich zurück und hielt sich die Nase zu.
Und jetzt roch es auch Pendergast, der tief in sein mentales Konstrukt eingetaucht war – diesen unbeschreiblichen Gestank, faulig, wie vergammelte, von Pilzen überwucherte Leber; die Wände seines Erinnerungspalastes begannen zu verschwimmen. Dann nahmen sie wieder Form an.
Aloysius leuchtete mit seiner Kerze in den Raum, der sich soeben ihren Blicken enthüllt hatte. Es war keine Gruft, sondern eine große Vorratskammer, die in den rückwärtigen Teil des Kellers gehauen war. Das flackernde Licht erhellte eine Ansammlung merkwürdiger Vorrichtungen aus Messing, Holz und Glas.
»Was ist da drin?« Diogenes stellte sich hinter seinen Bruder. »Sieh selbst.«
Diogenes spähte in den Kellerraum. »Was sind das für Sachen?«
»Maschinen«, antwortete der ältere Bruder mit großer Bestimmtheit, als ob er es genau wüsste.
»Gehst du rein?«
»Natürlich.« Aloysius trat in den Kellerraum. »Kommst du nicht mit?«
»Doch.«
Pendergast sah ihnen aus dem Schatten zu.
Sie standen darin. Die Bleiwände waren von weißlichen Oxiden durchzogen. Der Raum war vom Boden
Weitere Kostenlose Bücher