Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
Methode nicht funktionieren, dann vielleicht eine abstraktere.
Schnell ordnete er im Geist die tausend bedeutendsten Gemälde der westlichen Überlieferung. Eines nach dem anderen, in chronologischer Folge, bis sie den Rahmen seines Bewusstseins völlig ausfüllten; er zwang ihre Farben, Pinselstriche, Sinnbilder, verborgenen Bedeutungen, Allegorien, subtil und offensichtlich, dazu, sein gesamtes Bewusstsein zu durchfluten. Duccios
Maestà
; Botticellis
Geburt der Venus
; Masaccios
Dreifaltigkeit
; Fabrianos
Anbetung der Könige
; van Eycks
Arnolfini-Hochzeit
– immer wieder stürmten diese Bilder in seine geistige Landschaft, löschten mit ihrer Komplexität, ihrer hinreißenden Schönheit alles Denken aus. Er ging die Kunstgeschichte weiter durch, immer schneller, bis er in der Gegenwart ankam: Rousseau und Kandinsky und Marin. Dann begab er sich zurück und fing wieder von vorne an, sich noch schneller bewegend, bis alles ein Schleier aus Farbe und Form war, jedes Bild gleichzeitig in seinem Geist festgehalten, in überwältigender Komplexität, die dem Dämon keinen Halt bot …
Der Schleier der Farben löste sich auf. Die rauhe Gestalt der
tulpa
drängte sich durch das Kaleidoskop der Bilder, eine Grube der Finsternis, die alles in sich hineinsaugte, während sie Pendergasts Gesicht immer näher kam.
Pendergast sah sie herannahen, er war starr wie eine Maus unter dem Blick einer Kobra. Mit ungeheurer Mühe riss er sich von seinen Gedanken los. Er war sich bewusst, dass sein Herz jetzt viel schneller schlug. Er spürte förmlich das heiße Verlangen des Dings nach seiner Essenz, seiner
Seele
. Begierde strahlte von dem Rauch-Geist aus wie Hitze. Diese Bewusstheit produzierte in ihm ein Kribbeln der Panik, kleine Platzer und Blasen an den Rändern seines Bewusstseins.
Die
tulpa
war so viel stärker, als er sich je vorgestellt hatte. Zweifellos hätte sich jeder ohne den einzigartigen mentalen Schutzpanzer, den er nun besaß, ihr sofort kampflos ergeben.
Das Ding kam noch näher. Mit etwas, das Verzweiflung nahekam, fiel Pendergast ins Reich der absoluten Logik zurück und gab in der zunehmend zerstückelten Landschaft seines Geistes einen Strom reiner Mathematik frei. Die
tulpa
glitt schneller denn je durch seine Deckung.
Sie zeigte sich unbeeindruckt von jedem Mittel, das er ausprobierte. Vielleicht war sie doch unbesiegbar …
Und nun, ganz plötzlich, wurde die Bedrohung in all ihrem Ausmaß bloßgelegt. Denn nicht nur attackierte das Ding seinen Geist, sondern auch seinen Körper. Er spürte, wie seine Muskeln unkontrollierbar zuckten; spürte, wie sein Herz sich mühte; spürte, wie seine Hände sich ballten und öffneten. Es war furchtbar und angsterregend, eine doppelte Besessenheit des Geistes und der körperlichen Gestalt. Es wurde noch schwerer, die Dissoziation von seinem Körper, so entscheidend, um den Zustand des
stong pa
nyid
zu erlangen, aufrechtzuerhalten. Seine Gliedmaßen fielen zunehmend unter die Kontrolle der
tulpa
; die Anstrengung, die erforderlich war, seinen Körper zu ignorieren, wurde zunehmend deutlicher spürbar.
Und dann kam der Augenblick, als dies nicht mehr gelang. All seine sorgsam konstruierte Abwehr, seine Finten und Finessen und Strategien versagten allmählich. Und alles, woran Pendergast denken konnte, war das blanke Überleben.
Jetzt erstand vor ihm die alte Familienvilla an der Dauphine Street, der Gedächtnis-Palast, der ihm in der Vergangenheit stets Zuflucht geboten hatte. Verzweifelt schnell lief er darauf zu. Der Garten war in Windeseile durchquert; die Vordertreppe mit einem Sprung genommen. Und dann war er drin, keuchend vor Anstrengung.
Er drehte sich um, den Rücken an den Türrahmen gelehnt, und blickte sich hektisch um. In der Maison de la Rochenoire war es mucksmäuschenstill. Vor ihm, am Ende eines langen Flurs voller Schatten, sah er das prachtvoll geschwungene Foyer mit seinen unvergleichlichen Sammlungen von Kuriositäten und Kunstgegenständen und die geschwungene, doppelte Freitreppe, die in den ersten Stock führte. Noch weiter geradeaus, in Dunkel gehüllt, lag die Bibliothek, deren Tausende in Leder gebundene Bände unter einer dünnen Staubschicht schlummerten. Normalerweise erfüllte ihn dieser Anblick mit leiser Freude.
Im Moment aber fühlte er nur eines: die atavistische Furcht des Gejagten.
Er lief durch den Speisesaal, in Richtung des Foyers, und zwang sich dabei, nicht über die Schulter zurückzublicken. Als er im Foyer ankam,
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