Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
Schutz an den Aufbauten, der Junge, der jetzt wieder weinte, lag in ihren Armen. Von irgendwo über ihr ertönte ein Schrei, ein einsamer Laut wie von einer verirrten Möwe.
Wenn sie sterben musste, dann wollte sie zumindest mit Würde sterben, mit einem anderen Menschen in den Armen. Sie drückte den Kopf des Jungen an ihre Brust, schloss die Augen und fing an zu beten.
Plötzlich änderte sich das Maschinengeräusch. Das Schiff krängte, vollführte eine neue Bewegung. Sie riss die Augen auf, hatte Angst, Hoffnung zu schöpfen. Aber es stimmte –
das Schiff drehte ab.
Sie rappelte sich auf, führte den Jungen zurück zur Reling – und traute fast ihren Augen nicht, als die Linie der donnernden Brandung zwar näher rückte, aber nicht mehr ganz so schnell. Während das Schiff weiterhin gierte, donnerte die steiler werdende Grunddünung gegen den Schiffsrumpf und schleuderte immer wieder Wassermassen empor, aber dazwischen waren die schwarzen Felsen zu erkennen, die am Bug vorbeischwangen, sich abwendeten, abwendeten – bis sie parallel zum Schiff verliefen und die gigantische Brandungslinie an der Steuerbordseite vorbeiglitt; nichtsdestotrotz waren die nächsten Felsen so nah, dass man sie fast hätte berühren können, als sie vorbeizogen, während der Schiffsrumpf durch die steilwandigen Wellen krachte.
Plötzlich fiel der letzte Felsen nach achtern ab, das Donnern der Brandung verklang, und die
Britannia
fuhr weiter, jetzt allerdings erkennbar langsamer. Da hörte sie, durch das Jaulen der Maschinen und den Lärm der Brandung hindurch, ein anderes Geräusch: Jubelrufe.
»Na«, sagte sie und drehte sich zu dem Jungen um, »wollen wir nach deiner Mama und deinem Papa suchen?« Und während Emily Dahlberg auf etwas wackeligen Beinen zur Lukentür zurückging, erlaubte sie sich ein leises, erleichtertes Lächeln.
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78
Scott Blackburn hockte im Schneidersitz zwischen den Ruinen seines Appartements. Der Salon bot ein Bild der Verwüstung. Seltenes Porzellan, kostbares Kristall, erlesene Ölgemälde, Skulpturen aus Jade und Marmor – das alles war kunterbunt durcheinandergewirbelt und lag, zerbrochen und zerschlagen, unten an einer Wand der Kabine.
Blackburn nahm das alles nicht wahr. Während der Krise hatte er sich mit seinem kostbarsten, seinem wertvollsten, seinem
einzigen
Besitz in einen Schrank geflüchtet, es fest an die Brust gedrückt und vor jedem Schaden geschützt. Aber jetzt, da das Schlimmste vorbei war und das Schiff den Hafen anlief – was er immer schon gewusst hatte –, hängte er es mit liebevoller Geste in seinem Salon an seinem goldenen Haken auf.
Sein Besitz – das stimmte nicht ganz. Wenn überhaupt, dann hatte es Besitz von ihm ergriffen.
Er zog das Mönchsgewand fester um seinen sportlichen Körper, setzte sich auf den Boden vor das Agozyen und nahm die Lotusstellung ein, wobei er den Blick kein einziges Mal in Richtung des Mandalas schweifen ließ. Er war allein, herrlich allein – sein Zimmermädchen war gegangen, vielleicht auch tot. Niemand würde seine Kommunion mit dem Nichtendenden und dem Endlosen stören. Er erschauerte vor unwillkürlicher Freude ob der bloßen Erwartung dessen, was gleich kommen würde. Es war wie eine Droge – die vollkommenste, ekstatischste, befreiendste Droge; und er bekam nicht genug davon.
Bald würde der Rest der Welt an seinem Verlangen teilhaben.
Er saß ruhig da. Sein Herzschlag und auch seine Gedanken kamen allmählich zur Ruhe. Schließlich, mit einer Bedachtsamkeit, die ebenso köstlich wie verrückt machend war, hob er den Kopf und erlaubte seinen Augen, das grenzenlose Wunder und Mysterium des Agozyens zu schauen.
Aber noch währenddessen drang etwas in seine private Welt ein. Eine unerklärliche Kühle ließ seine Glieder unter dem seidenen Gewand erzittern. Ein Gestank breitete sich im Zimmer aus – ein Geruch nach Pilzen und tiefem Wald, der den milden Wohlgeruch der Butterkerzen völlig überdeckte. Unruhe verscheuchte seine Gefühle der Erwartung und der Begierde. Es war fast so, als ob …, aber nein, das konnte nicht sein …
Plötzlich empfand er Angst und schaute sich über die Schulter um. Zu seinem transzendenten Grauen und Entsetzen war es da – nicht versessen darauf, seinen Feind zur Strecke zu bringen, sondern vielmehr, sich ihm mit einem förmlich spürbaren Hunger und Verlangen zu nähern. Rasch erhob er sich, aber es war bereits auf ihm, drang in ihn ein, erfüllte seine Glieder wie seine
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