Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
aus dem Ei gepellt, sein Gesicht eine Maske aus Granit. Kemper warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr: genau zwölf Uhr mittags.
Cutter verschwendete keine Zeit. »Mr Kemper? Ihr Bericht.«
Kemper räusperte sich. »Bei der Toten handelt es sich um Willa Berkshire, wohnhaft in Tempe, Arizona. Vor kurzem verwitwet, reist zusammen mit ihrer Schwester, Betty Jondrow. Wie’s aussieht, wurde sie durch einen einzelnen Hieb mit einer Machete getötet, einem Requisit, das in einem verschlossenen Schrank hinter der Bühne aufbewahrt wurde.«
Cutter runzelte die Stirn. »Ein Bühnenrequisit?«
»Ja. Wir wissen noch nicht, ob der Mörder das Tatwerkzeug geschärft hat oder ob er es scharf gefunden hat – niemand scheint sich daran zu erinnern, in welchem Zustand die Machete war. Die Frau wurde unmittelbar hinter der Bühne ermordet – am Tatort wurde viel Blut gefunden. Der Tod ist schätzungsweise eine halbe Stunde bis zwanzig Minuten, bevor der Vorhang aufging, eingetreten; das war zumindest das letzte Mal, als Mrs Berkshire lebend gesehen wurde. Nachdem der Mörder die Tat begangen hatte, hat er mit Hilfe der Bühnenhebevorrichtungen die Leiche hochgezogen. Wie’s aussieht – aber das ist reine Spekulation –, wurde das Opfer hinter die Bühne gelockt, mit einem einzigen Hieb getötet und rasch emporgehievt. Der ganze Vorgang dürfte nur wenige Minuten gedauert haben.«
»Die Frau wurde hinter die Bühne gelockt?«
»Es handelt sich um einen abgeschlossenen, öffentlich nicht zugänglichen Bereich. Und ich sage ›gelockt‹, weil nur schwer vorstellbar ist, dass ein Passagier dort ohne einen guten Grund hingeht.«
»Irgendwelche Verdächtigen?«
»Noch nicht. Wir haben die Schwester vernommen; sie hat ausgesagt, dass sie das Mordopfer vor dem Kino treffen wollte, wo sie sich beide ein Autogramm von Braddock Wiley erhofften. Sie kannten niemanden sonst an Bord und hatten keine Bekanntschaften gemacht. Zweck der Reise war, Zeit miteinander zu verbringen, sagt sie, keine Männerbekanntschaften oder Geselligkeit mit Fremden. Sie sagt, sie hätten keine Feinde, hätten keine Zwischenfälle oder Streitereien an Bord erlebt. Kurzum: Berkshire scheint ein zufälliges Opfer zu sein.«
»Irgendwelche Anzeichen für Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff?«
»Ich bin kein Arzt, Captain.«
Cutter drehte sich zum Leitenden Schiffsarzt um. »Dr. Grandine?«
Der Arzt räusperte sich. »Captain, das ist wirklich schrecklich, ein Schock für uns alle …«
»Irgendwelche Anzeichen für eine Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff?«
»Sie müssen verstehen, dass wir keine Einrichtungen an Bord haben, um eine Autopsie vorzunehmen, außerdem bin ich nicht qualifiziert. Meine Ausbildung in forensischer Medizin ist minimal und seit vielen Jahren veraltet. Wir kühlen die Leiche, damit sie gleich bei der Ankunft im Hafen gerichtsmedizinisch untersucht werden kann. Ich selbst habe den Leichnam nicht im Einzelnen untersucht – außerdem würde jeder diesbezügliche Versuch meinerseits dem Pathologen später nur Probleme bereiten.«
Cutters Blick brachte deutlich seine geringe Wertschätzung des Arztes zum Ausdruck. »Zeigen Sie mir die Leiche.«
Die Aufforderung rief eine ungläubige Stille hervor.
»Also gut, aber ich warne Sie: Es ist kein schöner …«
»Dr. Grandine, beschränken Sie Ihre Bemerkungen auf Informationen zur Sache.«
»Ja, natürlich.« Höchst widerstrebend schloss der Arzt eine Tür am rückwärtigen Ende des Büros auf, und sie traten nacheinander in einen schmalen Raum, der unter anderem als Leichenhalle diente. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich neun große Schubfächer aus Edelstahl, in denen Leichname aufbewahrt werden konnten. Neun war zwar eine ganze Menge, aber Kemper wusste sehr wohl, dass viele Menschen an Bord von Schiffen starben, was angesichts des Durchschnittsalters der Kreuzfahrtpassagiere und ihrer Neigung, sich – kaum an Bord gekommen – hemmungslos Speis und Trank und sexuellen Eskapaden hinzugeben, kaum verwunderte.
Der Arzt schloss eines der mittleren Schubfächer auf und zog einen Rollkasten hervor, auf dem ein halb transparenter Leichensack zum Vorschein kam. Kemper sah ein verschwommenes, rosafarbenes Etwas darin. Er bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
»Machen Sie auf.«
Kemper hatte die Leiche bereits in Augenschein genommen, dabei wusste er gar nicht, wonach er suchen sollte. Die Leiche noch einmal zu sehen, war das
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