Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
von den dicken grauen Lippen, der Atem war wie Luft, die aus einer nassen Tüte herausgepresst wird. Das eine gesunde Auge wirkte tot – absolut tot.
Charrière griff in die Falten seiner Robe und zog einen kleinen Messingkelch hervor. Er tauchte die Finger hinein, sprenkelte etwas, das aussah wie Öl, über Kopf und Schultern des Geschöpfs, das schwankend vor ihm stand. Dann sank zu D’Agostas grenzenlosem Erstaunen der Hohepriester vor dem Wesen auf die Knie und verneigte sich tief. Die anderen folgten seinem Beispiel. D’Agosta spürte ein Ziehen an seiner Robe: Pendergast wies ihn an, das Gleiche zu tun. Er kniete nieder und streckte die Hände in Richtung des Zombies aus – wenn es denn ein solcher war. Gleichzeitig sah er, dass die anderen es auch taten.
»Wir verneigen uns vor unserem Beschützer!«, intonierte der Priester. »Heil unserem Schwert, unserem Fels!«
Die anderen stimmten ein.
Charrière setzte seine Predigt in einer fremden Sprache fort, die anderen sprachen ihm nach.
D’Agosta blickte sich um. Bossong war nicht mehr zu sehen.
»So wie die Götter droben uns stärken«, sagte der Hohepriester und wechselte zurück ins Englische, »so wollen wir nun dich stärken!«
Wie aufs Stichwort hörte D’Agosta ein Wimmern. Als er sich umwandte, erblickte er in der Dunkelheit ein kleines kastanienbraunes Fohlen – höchstens eine Woche alt –, das am Halfter zu dem hölzernen Pfahl geführt wurde, seine langen, wackligen Beine stampften auf den Boden, es bewegte sich vor und zurück und wieherte zum Erbarmen, die großen braunen Augen rund und verängstigt. Der Ministrant band es an den Pfosten und trat einen Schritt zurück.
Der Priester erhob sich. Während er sich halb tanzend, halb schwankend bewegte, hob er ein glänzendes Messer, ähnlich denjenigen, die sie bei der Hausdurchsuchung entwendet hatten.
O du lieber Gott, nein,
dachte D’Agosta.
Die Menge stand da und wandte sich dem Hohepriester zu. Die Zeremonie näherte sich eindeutig ihrem Höhepunkt. Charrière steigerte sich in eine Trance hinein und tanzte auf das Fohlen zu, die Gemeinde schwankte rhythmisch hin und her, das glitzernde Messer wurde noch höher gehoben. Das kleine Fohlen stampfte und wieherte vor Todesangst, schüttelte den Kopf, versuchte, von dem Pfahl loszukommen.
Der Priester kam näher.
D’Agosta wandte sich ab. Er hörte das schrille Wiehern, hörte den jähe Ausatmen der Menge – und dann den Todesschrei des Fohlens.
Die Männer stimmten einen schnellen Sprechgesang an. D’Agosta wandte sich wieder ab. Der Priester hob sich das sterbende Fohlen, dessen Beine noch zuckten, auf die Arme. Er schritt den Mittelgang hinunter, die Menge teilte sich, abermals näherte er sich dem hässlichen Mann-Wesen. Mit einem Aufschrei legte der Priester das tote Fohlen auf den Steinfußboden, die Gemeindemitglieder knieten alle auf einmal nieder, und D’Agosta und Pendergast beeilten sich, es ihnen gleichzutun.
Einen grässlichen Laut ausstoßend, stürzte sich der Zombie auf das tote Fohlen, zerrte mit den Zähnen daran, zog mit einem bestialischen Laut der Befriedigung die Eingeweide heraus und stopfte sie sich in den Mund.
Das Flüstern wurde lauter.
Gebt dem Beschützer zu essen! Envoie! Envoie!
D’Agosta starrte voll Entsetzen auf den knienden Mann. Gleichzeitig verspürte er tief in sich eine atavistische Angst. Er blickte zu Pendergast. Ein Blinzeln der silbergrauen Augen unter der Kapuze lenkte D’Agostas Aufmerksamkeit auf eine Seitentür in der Kirche – sie stand einen Spaltbreit offen und führte in einen dunklen, leeren Gang. Ein Fluchtweg.
Envoie! Envoie!
Die Gestalt aß mit wüster Geschwindigkeit. Und dann war sie satt. Sie erhob sich, das Gesicht ausdruckslos, als erwarte sie Befehle. Die Menge erhob sich ebenfalls.
Auf eine Geste des Priesters hin teilte sich die Menge und bildete einen Durchgang. Vom anderen Ende der Kirche ertönte das Knarren und Quietschen von Eisen, ein Gemeindemitglied öffnete die Tür zur Außenseite. Ein Hauch von Abendluft drang herein, über der Schutzmauer war ein einzelner, matt leuchtender Stern am dunklen Himmel zu sehen. Charrière legte dem Zombie eine Hand auf die Schulter, hob die andere und zeigte mit seinem langen, knochigen Finger zur offenen Tür.
»Envoie!«,
flüsterte er mit rauher Stimme und bebendem Finger.
»Envoie!«
Langsam begann die Gestalt in Richtung Tür zu schlurfen. Im Nu war sie hindurchgetreten und verschwunden. Die Tür
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