Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
sich und sah auf die Uhr. »Der Lieferwagen kommt also in einer Stunde.«
»Immer, auf die Minute.«
Kaum hatte er das Gebäude verlassen, atmete er die abendliche Luft tief ein. Alles ruhig, grün. Kaum zu glauben, dass das hier noch Manhattan-Island war. Er blickte auf die Uhr: kurz nach acht. Weiter unten an der Straße hatte er ein Diner gesehen; er würde einen Kaffee trinken und warten.
Der Lieferwagen kam pünktlich auf die Minute, ein Chevy Express, Baujahr 97, bis auf die Windschutzscheibe waren alle Scheiben dunkel getönt, eine Leiter verlief bis aufs Dach. Langsam fuhr der Wagen von der West 214. auf die Indian Road, weiter am Häuserblock vorbei, und bog dann in die Stichstraße, die zum Ville führte. Vor der Kette mit dem Vorhängeschloss hielt er an.
D’Agosta passte seine Schritte so ab, dass er hinter dem Lieferwagen die Straße überquerte, als die Fahrertür aufging. Ein Mann stieg aus, trat ans Vorhängeschloss und sperrte es auf. D’Agosta konnte es in dem schummrigen Licht nicht klar erkennen, aber der Mann schien außergewöhnlich groß zu sein. Er trug einen langen Mantel, der fast antik aussah, wie aus einem Western. D’Agosta blieb stehen, steckte sich eine Zigarette an, hielt den Kopf dabei gesenkt. Als die Kette auf dem Boden lag, kam der Mann zurück, stieg in die Fahrerkabine, steuerte den Lieferwagen über die Kette und hielt wieder an.
D’Agosta ließ die Zigarette fallen und rannte vor, damit der Lieferwagen zwischen ihm und dem Mann blieb. Er horchte, während der Fahrer die Kette wieder anhob, das Vorhängeschloss anbrachte und zur Wagentür zurückkehrte. Dann schlich D’Agosta leicht gehockt um die Rückseite des Lieferwagens, trat auf die Stoßstange und packte die Leiter. Das hier war öffentlicher Grund und Boden, er gehörte der Stadt. Es gab keinen Grund, warum ein Gesetzeshüter draußen bleiben sollte, solange er nicht unbefugt private Gebäude betrat.
Der Lieferwagen startete, der Fahrer fuhr vorsichtig und langsam. Sie ließen die trüben Lichter von Upper Manhattan hinter sich, und schon bald befanden sie sich zwischen den dunklen, stummen Bäumen des Inwood Hill Parks. Zwar waren die Fenster fest geschlossen, aber die Geräusche, die Mrs. Pizzetti erwähnt hatte, waren für D’Agosta nur allzu klar zu identifizieren: ein Chor aus Schreien, Blöken, Miauen, Bellen, Gackern und – noch grauenhafter – dem verängstigten Wiehern eines neugeborenen Fohlens. Allein schon beim Gedanken an die bemitleidenswerten Tiere und das Schicksal, das ihnen nur allzu deutlich bevorstand, überkam D’Agosta die blanke Wut.
Der Lieferwagen erklomm eine Anhöhe, fuhr hinunter, hielt an. D’Agosta hörte den Fahrer aussteigen. Gleichzeitig sprang er von der Rückseite des Lieferwagens, spurtete in den nahe gelegenen Wald und verschwand darin. Geschützt vom dunklen Blattwerk ging er in die Hocke und blickte in Richtung des Lieferwagens. Der Fahrer schloss ein altes Tor in einem Maschendrahtzaun auf, das Gesicht war im Scheinwerferlicht ganz kurz zu sehen. Der Mann hatte eine blasse Gesichtsfarbe und auffallend fein geschnittene, fast aristokratische Züge.
Der Lieferwagen fuhr durchs Tor; abermals erschien der Mann und verschloss es; dann stieg er wieder in den Lieferwagen und fuhr weiter. Als D’Agosta aufstand und sich die Blätter abklopfte, zitterten ihm die Hände vor lauter Wut. Jetzt konnte ihn nichts mehr davon abhalten, dort reinzugehen, denn all diesen Tieren drohte höchste Gefahr. Er war ein Gesetzeshüter in Ausübung seiner Pflichten. Als Kommissar der Mordkommission trug er meist keine Uniform; er holte seinen Dienstausweis hervor und steckte ihn ans Revers, kletterte über den Maschendrahtzaun und ging die Straße hinunter, dorthin, wo die Heckleuchten des Lieferwagens verschwunden waren.
Die Straße beschrieb eine Kurve, dahinter sah D’Agosta undeutlich den Turm einer großen, grob gezimmerten Kirche, die von einer unordentlichen Ansammlung funzeliger Lichter umgeben war.
Nachdem eine Minute vergangen war, blieb er mitten auf der Straße stehen, wandte sich um und spähte in die Dunkelheit. Irgendein Cop-Instinkt sagte ihm, dass er nicht allein war. Er zog seine Stablampe hervor und leuchtete damit die Baumstämme und die Büsche mit ihren trockenen, raschelnden Blättern an.
»Wer ist da?«
Stille.
D’Agosta schaltete die große Taschenlampe aus, steckte sie wieder ein und spähte weiter ins Dunkel. Der matte Schein eines Viertelmondes
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