Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
ausüben konnte. Spanish Island war der ideale Ort dafür. Wenn die Insel nicht schon entdeckt worden wäre, wäre sie nie entdeckt worden. Und weil sie als Labor genutzt worden war, hatte man dort bereits einen Großteil der Apparate, die er brauchen würde. Zweifellos hegte er die Hoffnung, er könnte ein Heilmittel entwickeln. Vielleicht hat er June Brodie geheilt, als er eines zu entdecken versuchte.«
»Ja, das kann sein, aber warum ein derart komplizierter Plan? Den eigenen Tod inszenieren, Mrs. Brodies Tod inszenieren. Ich meine, er befand sich doch nicht auf der Flucht vor dem Gesetz oder dergleichen.«
»Nein, nicht vor dem Gesetz. Es scheint wirklich eine extreme Reaktion gewesen zu sein. Aber andererseits ist es auch nicht wahrscheinlich, dass ein Mann unter solchen Umständen klar denkt.«
»Wie dem auch sei, jetzt ist er tot«, fuhr sie fort. »Können Sie denn nicht endlich Frieden finden? Irgendeine Art Abschluss?«
Einen Augenblick gab Pendergast keine Antwort. Schließlich erwiderte er mit tonloser Stimme: »Nein.«
»Warum denn nicht? Sie haben den Fall doch gelöst, den Mord an Ihrer Frau gerächt.«
»Vergessen Sie nicht, was Slade gesagt hat: Mich erwartet eine Überraschung im Leben. Damit kann er nur den zweiten Schützen gemeint haben – den, der immer noch da draußen ist, irgendwo. Solange er auf freiem Fuß ist, bleibt er eine Gefahr für Sie, für Vincent und für mich. Und …« Er hielt einen Augenblick inne. »Da ist noch etwas.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Solange auch nur eine Person da draußen ist, die für Helens Tod die Verantwortung trägt, kann ich nicht ruhen.«
Sie sah ihn an, aber er hatte seinen Blick schon von ihr abgewandt. Der Vollmond, der hinter den Wolken erschienen war und schließlich im Sumpf unterging, schien Pendergast auf merkwürdige Art in seinen Bann zu ziehen. Sein Gesicht wurde kurz von den Lichtstrahlen erhellt, während die runde Scheibe durch die dichte Vegetation nach unten sank, und dann, als der Mond schließlich hinter dem Horizont versank, war der Lichtschein urplötzlich erloschen, der Sumpf wieder in Finsternis getaucht.
79
Malfourche, Mississippi
Das wendige Utility-Boot, mit Pendergast am Steuer, glitt in einen freien Liegeplatz auf der anderen Seite des Flussarms, am Anleger hinter
Tiny’s Bait ’n’ Bar.
Die Sonne, die fast am höchsten Punkt stand, ergoss eine nicht jahreszeitgemäße Hitze und Schwüle in jede Ecke des schlammigen kleinen Hafens.
Pendergast sprang vom Boot, machte es fest und half Hayward auf den Anlegesteg, dann reichte er ihr die beiden Krücken.
Es war zwar erst später Vormittag, aber trotzdem ertönte schon laute Country-and-Western-Musik aus der maroden Bait ’n’ Bar auf der anderen Seite des Anlegers. Pendergast schnappte sich June Brodies Vorderschaftrepetierflinte Kaliber 12 und hob sie über den Kopf.
»Was tun Sie denn da?«, fragte Hayward, die sich auf die Krücken stützte.
»Ich mache die Leute auf uns aufmerksam. Wie ich bereits andeutete, haben wir hier noch etwas zu erledigen.« Ein gigantischer Knall ertönte, als Pendergast mit der Schrotflinte in die Luft schoss. Kurz darauf strömten mehrere Männer aus der Bar wie Hornissen aus ihrem Nest, viele mit Bierdosen in der Hand. Tiny und Larry waren nirgends zu sehen, aber der Rest der Truppe war in voller Stärke angetreten. Hayward erinnerte sich an die Gaffer mit ihren schwitzenden Gesichtern mit einem Hauch von Ekel. Schweigend blickte die große Gruppe auf sie und Pendergast. Sie hatten sich vor der Abfahrt von Spanish Island gewaschen, und June Brodie hatte Hayward eine saubere Bluse gegeben, aber sie mussten trotzdem einen ziemlich abgerissenen Eindruck machen.
»Kommt mal her, Jungs, und passt auf, was hier passiert!«, rief Pendergast, während er über den Anleger auf Tiny’s und den zweiten Anleger zuging.
Zögernd und misstrauisch kamen die Männer ihnen entgegen. Schließlich trat ein Mann, mutiger als die anderen, vor. Er war groß und dick, wirkte irgendwie gemein, hatte ein kleines, frettchenhaftes Gesicht und einen großen, dicken, formlosen Leib. Er starrte sie aus zusammengekniffenen blauen Augen an. »Was wollt ihr denn jetzt schon wieder?«, sagte er und rückte vor, während er seine Bierdose ins Wasser warf. Hayward erkannte ihn: Er war einer von denen, die am lautesten gejubelt hatten, als ihr Büstenhalter entzweigeschnitten wurde.
»Ihr habt gesagt, dass ihr uns in Ruhe lassen wollt«, rief jemand anders
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