Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
mikroskopische Untersuchungen, Opferforschung –, einer folgte dem anderen mit militärischer Präzision, sehr zu D’Agostas Zufriedenheit. Er vermied es bewusst, zu Singleton hinüberzuschauen, obwohl er begierig war, dessen Reaktion zu erfahren.
Eines hatte D’Agosta über Besprechungen wie diese gelernt, nämlich dass man eine Spannung erzeugen musste, indem man das Beste bis zum Schluss aufhob, weil dann alle wach und aufmerksam blieben. Und in diesem Fall war das Beste Warsaw, der Computerfreak aus der forensischen Ermittlungsabteilung, der sich auf die Analyse von Überwachungsvideos spezialisiert hatte. Mit seinen vom Schlaf strubbeligen Haaren und seinen Pickeln sah Warsaw eher wie ein ungepflegter Teenager aus. Im Unterschied zu den anderen trug er keinen Anzug, nicht mal einen schlechten, sondern eine ziemlich enge schwarze Jeans und ein T-Shirt mit Heavy-Metal-Aufdrucken. Man ließ es ihm durchgehen, weil er so gut war.
Allerdings war er auch ein Angeber. Eine Fernbedienung in der Hand, ging er mit langen Schritten zum Podium; das Licht wurde gedimmt.
»Hallo an alle«, begann Warsaw. »Herzlich willkommen zum Mords-Trailer der Mörder-Show.«
Das brachte ihm einen Lacher ein.
»Das Marlborough Grand verfügt über die neuesten digitalen Sicherheitsvorrichtungen, darum haben wir schönes, wunderschönes Material. Wir haben den Täter von vorn, hinten, von der Seite, von oben und unten – und das alles in Hochauflösung. Hier nun die Highlights, die ich auf, äh, fünf Minuten zusammengeschnitten habe. Ihre Mappen enthalten eine Auswahl von Standbildern aus dem Filmmaterial, das, während wir hier sitzen, diversen anderen Luxushotels und – sehr bald – der Times, der Post und der Daily News übermittelt wird.«
Der Film begann, und er war so gut, wie Warsaw versprochen hatte. Die Ausschnitte zeigten den Täter – mit verbundenem linken Ohr – in der Lobby; im Aufzug; wie er den Flur hinunterging; wie er den Flur hinaufging; wie er sich ins Zimmer des Opfers drängte. Und dann zeigte der Film Ausschnitte, wie der Mann mehr oder weniger auf die gleiche Weise das Hotel verließ, ohne Eile, unerschüttert, unbesorgt.
D’Agosta hatte die Ausschnitte schon gesehen, trotzdem ließen sie ihn erneut erschaudern. Das Gros der Mörder, das wusste er, ließ sich in zwei große Gruppen unterteilen: planvoll oder nicht planvoll agierend. Aber dieser Mann war so cool, ging derart methodisch vor, dass er beinahe in einer eigenen Liga spielte. Erneut fühlte sich D’Agosta zutiefst beunruhigt von diesem Umstand. Das Ganze passte einfach nicht zusammen. Passte ganz und gar nicht zusammen.
Die Einspielung endete, hier und da wurde applaudiert. Zu D’Agostas gelindem Ärger verneigte sich Warsaw theatralisch und verließ das Podium.
D’Agosta ging aufs Podium zurück. Es war jetzt halb drei. Bislang war alles wie am Schnürchen gelaufen. Aber sein Magen rumorte schon wieder – es fühlte sich allmählich an, als habe er eine Flasche Salzsäure getrunken. Den allerletzten Punkt, das Ohrläppchen, hatte er für sich selbst aufgehoben. Das Vorrecht des Teamleiters.
»Wir haben zwar noch keine DNA vom zusätzlichen Körperteil, den wir am Tatort gefunden haben – dem Ohrläppchen«, begann er. »Aber es gibt ein paar vorläufige Ergebnisse. Der Zustand der Haut deutet auf ein Alter unter fünfzig hin – genauer können wir das nicht sagen. Es ist beinahe sicher, dass die Existenz des Ohrläppchens nicht aus einem Kampf am Tatort resultiert. Vielmehr scheint es zum Tatort getragen und bewusst dort plaziert worden zu sein. Zudem hat es den Anschein, dass das Ohrläppchen einige Stunden vor dem Zeitpunkt des Mordes abgetrennt wurde – was nicht überrascht, denn wie Sie den Ausschnitten aus dem Überwachungsvideo entnehmen können, ist der Täter mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gesund und fit. Wir wissen, wie er aussieht, und bald wird es ganz New York City wissen. Er ist mit seinen rötlichen Haaren, dem teuren Anzug, dem guten Aussehen und dem sportlichen Körperbau eine auffällige Erscheinung. Wir haben Fingerabdrücke, Haare, Fasern von seiner Kleidung, und bald werden wir seine DNA haben. Wir haben die Charvet-Krawatte identifiziert, und wir sind nahe dran, seinen Anzug und seine Schuhe zu identifizieren. Wie’s aussieht, stehen wir kurz davor, den Typ zu schnappen.« D’Agosta machte eine kurze Pause und entschloss sich, das Thema anzusprechen. »Also – was stimmt an diesem Bild nicht?«
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