Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
seine Brieftasche hervor, klappte sie auf und zog ein kleines Blatt Papier heraus. Er faltete es auseinander und reichte es Constance. Es war die Fotokopie eines Kupferstichs aus einer alten Zeitung, der eine städtische Szene mit Kindern mit schmutzigen Gesichtern zeigte, die in einer Wohnstraße Stickball spielten. Ein wenig abseits stand ein weiteres Mädchen, dünn und verängstigt, mit einem Besen in der Hand. Sie hatte eine beinahe fotografische Ähnlichkeit mit einer jungen Constance Greene.
»Der Kupferstich stammt aus dem New-York Inquirer, Jahrgang achtzehnhundertneunundsiebzig«, sagte Felder. »Der Titel lautet Straßenkinder beim Spielen. «
Lange betrachtete Constance den Kupferstich. Dann strich sie sanft, geradezu liebevoll mit den Fingerspitzen darüber, bevor sie das Blatt wieder zusammenfaltete und Felder zurückgab. »Sie bewahren das in Ihrer Brieftasche auf, Dr. Felder?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich, ähm, konsultiere es von Zeit zu Zeit. Versuche, das Geheimnis zu entschlüsseln, nehme ich an.«
Constance musterte ihn weiter. Er bildete es sich vielleicht nur ein, aber Felder fand, dass der Ausdruck in ihren Augen ein wenig sanfter geworden war. Nach einem weiteren Moment ergriff sie das Wort.
»Damals, als der Kupferstich gemacht wurde, wurden Zeitungsillustrationen von Künstlern angefertigt. Sie fertigten Bleistift-und-Tusche-Zeichnungen an, Bleistiftskizzen, Kohlezeichnungen – was immer –, von Dingen, die sie für interessant oder berichtenswert hielten. Und dann reichten sie ihre Werke bei der Zeitung ein, wo professionelle Kupferstecher sie in einer Form reproduzierten, die gedruckt werden konnte.« Mit einem Nicken deutete sie in Richtung des gefalteten Blatts, das Felder immer noch in der Hand hielt. »Ich erinnere mich, wann diese Zeichnung angefertigt wurde. Der Künstler illustrierte eine Reihe von Artikeln über die Wohnbezirke in New York. Er hat diese Skizze angefertigt und mich dann – ich nehme an, mein Aussehen hat ihn für mich eingenommen – gefragt, ob er mein Porträt zeichnen dürfe. Meine Eltern waren bereits verstorben, deshalb hat er meine ältere Schwester gefragt. Sie willigte ein. Als die Arbeit fertig war, hat er ihr als Bezahlung seine vorläufigen Bleistiftskizzen geschenkt.«
»Wo sind die Studien?«, fragte Felder begierig.
»Längst verschwunden. Aber aus Dankbarkeit hat ihm meine Schwester eine Locke meines Haars geschenkt. Dass man Haarlocken verschenkte, war damals sehr verbreitet. Ich erinnere mich noch, dass der Künstler die Locke in ein kleines Kuvert steckte und in die Innenseite seines Mappendeckels klebte.« Sie machte eine Pause. »Der Künstler hieß Alexander Wintour. Wenn wir seine Mappe finden könnten, dann könnte sich die Locke doch immer noch darin befinden. Was jedoch, wie ich zugebe, reine Spekulation ist. Aber wenn Sie die Mappe finden könnten, und sie wäre noch vollständig, dann würde ein einfacher DNA-Test beweisen, was ich sage: dass ich fast anderthalb Jahrhunderte alt bin.«
»Ja«, murmelte Felder kopfschüttelnd. »Das wäre der Beweis.« Er notierte sich den Namen des Künstlers auf der Rückseite der Fotokopie, faltete sie und legte sie zurück in seine Brieftasche. »Nochmals vielen Dank, dass Sie mich empfangen haben, Constance.« Er stand auf.
»Gern geschehen, Dr. Felder.«
Er schüttelte ihr die Hand und verließ die Bibliothek. Zum ersten Mal seit Tagen spürte er ein Federn in seinem Schritt, hatte er das Gefühl von erneuerter Kraft in seinen Beinen.
Dann aber, auf der Vordertreppe des Mount Mercy, blieb er kurz stehen.
Warum tat Constance das? Die Meinung der Leute war ihr doch, wie ihm schien, immer äußerst gleichgültig gewesen. Etwas hatte sich verändert.
Aber was? Und warum?
13
D ’Agosta blickte auf sein Handy und sah, dass es eine Minute vor eins war. Wenn das, was er über Special Agent Conrad Gibbs gehört hatte, stimmte, dann würde er auf die Minute pünktlich eintreffen.
D’Agosta fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Seine bisherigen Erfahrungen mit dem FBI hatte er größtenteils während der Zusammenarbeit mit Pendergast gemacht. Und da wurde ihm klar, dass das wahrscheinlich schlimmer war, als überhaupt nicht auf eine Zusammenarbeit vorbereitet zu sein. Pendergasts Methoden, seine Vorgehensweise und seine Denkungsart waren der gängigen FBI-Kultur fremd, wenn nicht sogar entgegengesetzt.
Er blickte kurz auf den Kaffee von Starbucks und die Dutzend Doughnuts von Krispy
Weitere Kostenlose Bücher