Pendragon - Der Anfang
rannte zur Latrine hinüber, riss die Uhr vom Handgelenk und warf sie in die stinkende Brühe. Ganz bestimmt würde keiner Lust haben, sie herauszufischen. Ich zog sogar das Schweizer Offiziersmesser aus der Ta sche und warf es hin terher. Als ich aufsah, starrten mich alle an. Ich hielt es einfach nicht mehr aus.
»Was ist?«, brüllte ich. »Klar, ich hab’s vermasselt! Ich habe die Sachen von zu Hause mitgenommen, aber mir fiel keine andere Möglichkeit ein, On kel Press zu befreien. Und es hat funktioniert, oder nicht?«
Niemand antwortete. Sie sahen mich bloß an. Es machte mich total wahnsinnig.
»Es ist ja nicht so, dass ihr mich gehindert habt, Loor und Alder! Ihr habt die Sachen auch benutzt!«
»Aber wir wuss ten nicht, dass es verboten war«, ant wortete Loor ruhig. »Du dagegen schon.«
Das ließ sich nicht leugnen, doch ich konnte nicht an mich halten und brüllte weiter: »Ich habe nicht da rum gebeten, hierherzukommen! Keiner hat mich gefragt! Ich bin kein Krieger wie Loor oder Osa. Ich bin auch kein Ritter wie Alder. Und ich bin auch kein … kein … Ich weiß auch nicht mehr, was du bist, Onkel Press, aber ich bin ganz bestimmt nicht wie du! Du hättest mich nie hierher bringen dürfen.« Ich forderte den Streit geradezu heraus. Sie sollten mir sagen, dass ich der geborene Verlierer war, denn da rauf wusste ich eine Antwort. Ich würde ihnen zustimmen. Ich hatte nie behauptet, mehr als ein Schüler aus einem
Vorort von New York zu sein. Ich war kein Revoluzzer, kein Kämpfer oder sonst etwas, was sie in mir sahen. Es war ungerecht, mir die Schuld zu geben, weil ich ihre Erwartungen nicht erfüllte. Ich hatte mein Bestes gegeben. Wenn das nicht gut genug war, hatten sie eben Pech.
Sie stritten nicht mit mir. Stattdessen setzte sich On kel Press auf und sagte leise: »Kommt mal her zu mir – alle. Setzt euch.«
Wir sahen uns verlegen an und gingen zu ihm hinüber. Ich wusste nicht, was jetzt kam. Er redete so besonnen mit uns, dass die Anspannung aus dem Raum wich. Es erinnerte mich an Osas Fähigkeit, Leuten Sicherheit und Ruhe zu vermitteln.
»Ich verstehe, wie schwer es für euch alle ist«, begann er. »Ihr wisst erst seit kur zer Zeit, dass ihr Rei sende seid, und die gan ze Sache hat euch verwirrt.«
»Ich begreife nicht, warum gerade mir das passiert ist«, erklärte Alder. »Warum müssen wir Reisende sein?«
»Mir hat man auch keine Wahl gelassen«, sagte Loor. »Es ist ungerecht.«
Jetzt begriff ich, dass ich nicht der Einzige war, dem es mies ging. Also wussten auch Loor und Alder erst seit Kurzem, dass sie Reisende waren. Allerdings waren sie viel besser ausgebildet für diese Aufgabe als ich. Bis auf mein Ka ratetraining, das ich mit zehn Jahren absolviert hatte, war ich noch nie mit Kampfsport in Berührung gekommen. Meistens hatte ich mir eine blutige Nase geholt und war heulend nach Hause gerannt. Nicht gerade die beste Elitekämpferausbildung. Ich war hier eindeutig fehl am Platz.
Onkel Press lächelte freundlich und sagte: »Wenn ihr wissen wollt, warum ihr Reisende seid, müsst ihr daran denken, was ihr bis jetzt geschafft habt. Wie ihr mich aus dem Pa last befreit habt, war einfach unglaublich. Ihr habt euch als tapfer, klug und einfallsreich erwiesen. Doch noch viel wichtiger ist die Tatsache, dass ihr bereit wart, euer Leben für eine gerechte Sache aufs Spiel zu
setzen. Gewöhnliche Menschen machen das nicht. Ihr wollt wissen, warum ihr Reisende seid? Seht euch doch an.«
»Und was ist mit diesen komischen Fähigkeiten?«, warf Loor ein. »Wir verstehen Sprachen, ohne sie gelernt zu haben.«
»Ihr müsst noch sehr viel lernen«, antwortete Onkel Press. »Doch der beste Weg besteht darin, Erfahrungen zu sammeln. Im Laufe der Zeit wird alles klarer werden, aber ihr müsst es ganz allein lernen.«
»Du musst uns schon mehr als das erzählen«, meinte ich ungeduldig. »Gibt es noch andere? Ich mei ne, noch andere Reisende?«
»Ja. Jedes Territorium hat einen Reisenden. Wenn ihr in ein neues Territorium kommt, sucht immer zuerst den Reisenden auf. Er kennt die Sitten und die Geschichte seiner Heimat und kann euch helfen, euch zurechtzufinden.«
»Wie Alder«, meinte Loor.
»Ja, wie Alder«, bestätigte Onkel Press.
»Und was ist mit Saint Dane?«, wollte ich wissen. »Er ist auch ein Reisender, nicht wahr?«
Onkel Press’ Miene verfinsterte sich. »Ja«, sagte er ernst. »Das ist eine Sache, die ihr jetzt erfahren solltet. Alle Territorien haben Konflikte. Es
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