Pendragon - Der Anfang
bekannte Stelle kamen. Vor uns lag der Hauptschacht, den Osa und ich hinabgestiegen waren. Wie lange war das her? Es kam mir wie ein Jahrhundert vor, obwohl kaum mehr als eine Stunde vergangen war. Wir standen auf einem Felsvorsprung, und ich sah, dass wir uns nur drei Leitern tief unter der Erde befanden. Über uns leuchtete der blaue Himmel.
Loor blickte nach oben. Offensichtlich kämpfte sie mit sich, aber es dauerte nicht lange, bis ich den Grund dafür herausfand.
»Klettere nach unten!«, befahl sie. »Wir treffen uns dort. Geh jetzt!« Sie starrte mich an, bis ich die Leiter hinabstieg. Sobald mein Kopf verschwand, kletterte sie nach oben. Wie ich es mir gedacht hatte! Sie wollte zu ihrer Mutter. Ich stand auf der Leiter und beobachtete, wie sie immer höher stieg. Ich weiß, ich hätte tun sollen, was sie mir befohlen hatte, aber ich konnte es nicht. Osa hatte ihr Leben für mich riskiert, und ich musste wissen, was mit ihr geschehen war. Ich überlegte eine Weile und machte mich dann ebenfalls auf den Weg nach oben.
Als ich die letzte Leiter erreichte, hörte ich ein Geräusch. Zuerst konnte ich es nicht einordnen, aber als ich es erkannte, wurde mir schwer ums Herz. Es war Loor. Sie summte das fröhliche Lied, das ich schon am Fluss gehört hatte. Ich hievte mich aus dem Schacht, und der Anblick, der sich mir bot, brach mir das Herz.
Loor saß neben dem Steinpodest auf dem Boden. Sie hielt Osas Kopf auf dem Schoß und strich ihr immer wieder übers Haar. Dabei schaukelte sie hin und her, als wollte sie ein Kind in den Schlaf wiegen. Ich wusste nicht, ob Osa tot war oder noch lebte. Neben ihr lagen die Pfeile der schwarzen Ritter. Loor hatte sie herausgezogen. Ich blieb, wo ich war, denn ich wollte nicht stören. Loor war so stolz, sie wollte bestimmt nicht, dass ich sie weinen sah.
Aufmerksam blickte ich mich auf der Lichtung um, aber die Ritter waren verschwunden. Wahrscheinlich hatten die Bogenschützen ihre bewusstlosen Kameraden fortgetragen. Der Leichnam des Milago lag auf dem Rücken, und blicklose Augen starrten in den Himmel.
Dann bemerkte ich, wie sich Osas Hand bewegte. Zitternd tastete sie nach der Hand ihrer Tochter. Sie lebte! Schnell lief ich auf die Frauen zu, um zu helfen. Loor nahm mich gar nicht zur Kenntnis, aber sie hörte auf zu summen. Osa sah mich aus matten Augen an.
»Seid nicht traurig«, murmelte sie. »Keiner von euch. Das Schicksal hat es so bestimmt.«
Ich konnte die Tränen kaum zurückhalten. Osa würde es nicht schaffen.
»Es … es tut mir leid, Osa«, stammelte ich.
Sie ließ Loors Hand los und griff nach dem Lederbeutel um ihren Hals. Darin hatte sie den Silberring verstaut.
»Nimm ihn, Pendragon«, sagte sie. »Benutze ihn, wie du es für richtig hältst.«
Ich nahm den Beutel entgegen und zog den Ring heraus. Osa nickte zustimmend, und ich steckte ihn an den Ringfinger der rechten Hand. Merkwürdigerweise passte er perfekt.
»Ihr beide steht am Beginn einer Reise«, erklärte sie mit schwächer werdender Stimme. »Pendragon, ich weiß, dass du dich der Herausforderung nicht gewachsen fühlst. Du irrst dich.«
Ich nickte, glaubte ihr aber nicht.
Osa fuhr fort: »Halla liegt in euren Händen. Denkt daran. Lasst euch davon leiten. Gemeinsam werdet ihr beide …« Sie hielt den Atem an, schauderte und schloss die Augen. Sie würden sich nicht wieder öffnen.
Was für ein schmerzlicher Augenblick. Natürlich tat mir Loor leid. Sie hatte gerade ihre Mutter verloren. In der kurzen Zeit meiner
Bekanntschaft mit Osa hatte ich eine tiefe Zuneigung zu ihr gefasst. Sie war die Stimme der Vernunft in dem Sturm der Verwirrung, in den ich geraten war. Ich hatte ihr völlig vertraut. Bei ihr hatte ich mich sicher gefühlt. Mein Vertrauen war richtig gewesen, denn sie hatte ihr Leben für mich hingegeben. Das ist eine Schuld, die man nicht begleichen kann.
Ich wollte Loor trösten, aber ich wusste nicht, wie. Noch während ich nach Worten suchte, sagte Loor: »Geh in die Mine hinunter, Pendragon. Ich komme nach.«
Ich widersprach nicht. Ich nickte nur. Doch ehe ich die Leiter betrat, sagte ich: »Es tut mir leid, Loor.«
Sie reagierte nicht und saß einfach da, ihre Mutter in den Armen haltend. Während ich in die Tiefe kletterte, summte sie wieder das Lied. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht.
Als ich alle Leitern hinter mich gebracht hatte, wanderte ich zur großen Höhle hinüber. Dort sah alles unverändert aus. Hier gab es weder Nacht noch Tag. Keine Spur
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