Penelope Williamson
war und sich
mit einem »Nein« von ihr zufriedengegeben hätte.
»Und wovon soll ich nun leben?« fragte sie sich laut. »Kann ich
etwa meinen Stolz essen?«
Delia stand am Ende des Kais. Die Sonne
verschwand langsam hinter den hohen Masten und Segeln der Schiffe im Hafen. Ein
Fischer ruderte sein kleines Boot über die Bucht zum Ufer. Die Flut trieb
Seetang gegen die muschelverkrusteten Pfähle, wo er sich verfing und
hängenblieb. Eine Möwe flog mit schrillen Schreien dicht über ihren Kopf
hinweg. Ohne rechten Grund füllten sich Delias Augen wieder mit Tränen.
Vermutlich lag es daran, daß sie sich einsam fühlte.
Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung und
drehte sich in Richtung der Schuppen und Werkstätten, die dicht gedrängt am Kai
standen. Einige Offiziere von der Moravia schlenderten zu der
Anschlagstafel, auf der stand, welche Schiffe zur Zeit vor Anker lagen. Die
wenigen Einheimischen, die auf der Tafel nach Stellenangeboten gesucht hatten,
eilten beim Anblick der Engländer schleunigst davon. Alle gingen den englischen
Seeleuten aus dem Weg, denn die Königliche Marine mit ihren brutalen Rekrutierungspatrouillen
war bei den Einwohnern von Boston nicht gerade beliebt.
Mit einem lauten Seufzen machte sich Delia auf den Rückweg. Ein
kalter Wind war aufgekommen und wirbelte die Abfälle am Kai durcheinander. Ein
Zeitungsblatt verfing sich an ihren Beinen. Sie blieb stehen und beugte sich
nachdenklich vor, um sich davon zu befreien, als ihr Blick auf ein fettgedrucktes
Wort fiel.
Sie richtete sich auf und faltete die Zeitung so, daß sie das
Blatt besser halten konnte; aber sie konnte kaum lesen, denn sie hatte die
Schule nur unregelmäßig besucht. Sie entzifferte mühsam einen Buchstaben nach
dem anderen und bewegte dabei die Lippen. Schließlich gelang es ihr, ein
großgedrucktes Wort zu entziffern: »Ehefrau«, alles andere verstand sie nicht.
Sie wollte gerade aufgeben, als ein Schatten
auf die Zeitung fiel. Delia hob den Kopf und blickte in das Gesicht eines englischen
Offiziers. Die Rangabzeichen auf seiner schnittigen Uniform wiesen ihn als
Leutnant aus. Er war groß und schlank. Die straff zurückgekämmten Haare waren
zu einem kurzen Zopf geflochten, den er mit Aalhaut zusammengebunden hatte. Der
junge Mann lächelte Delia freundlich an.
»Guten Abend, mein Fräulein«, sagte er, und es klang freundlich.
»Sie sind mir aufgefallen, als Sie am Ende des Kais standen. Ich hatte den
Eindruck, daß Sie einsam sind, und ich dachte ...« Er lächelte verlegen, und
eine leichte Röte überzog sein Gesicht.
Ja, natürlich war sie einsam! Normalerweise hätte sie den plumpen
Annäherungsversuch des Leutnants sofort zurückgewiesen, aber diesmal überlegte
sie es sich anders. Sie wollte sich seine Kühnheit zunutze machen.
Mit einem Lächeln fragte sie ihn: »Können Sie
lesen, Sir?«
Der Leutnant richtete sich stolz auf. »Aber
natürlich!«
»Könnten Sie mir das laut vorlesen?«
Noch immer lächelnd gab sie dem jungen Mann die Zeitung. Er
räusperte sich, hielt das Blatt dicht vor die Augen und blinzelte. »Hm«, sagte
er und begann zu lesen.
»'EHEFRAU GESUCHT. Ein freier Farmer aus der
Siedlung Merrymeeting im Gebiet Sagadahoc in Maine befindet sich nach dem Tod
seiner Ehefrau in einer schwierigen Lage, denn er hat nicht nur für sich, sondern
auch für seine beiden jungen Töchter zu sorgen. Er bietet deshalb einer
ehrsamen Frau, die bereit ist, bei dem besagten freien Bauern die
Pflichten einer Ehefrau und Mutter seiner Töchter zu übernehmen, ein gutes
Zuhause. Die gesuchte Frau sollte gesund und stark und eine moralisch
gefestigte, vorbildhafte Christin sein. Interessentinnen mögen sich an Dr. med.
Tyler W. Savitch wenden, der zur Zeit im Roten Drachen, King Street, Boston,
wohnt.'«
Der Leutnant verstummte und lächelte Delia selbstbewußt an. Sie
lächelte ebenfalls, sah ihn im Grunde aber überhaupt nicht.
Sie dachte: Ein Farmer hat bestimmt ein eigenes Haus. Bei ihm gibt
es immer genug zu essen. Ein Mann mit zwei mutterlosen Töchtern ist vermutlich
gut zu einer Frau, die seine Kinder versorgt und sein Haus in Ordnung hält ...
»Der Rote Drachen ... Dr. med. Tyler W. Savitch«, wiederholte sie
laut. »Was bedeutet 'Dr. med.'?«
»Doctor medicinae. Der Mann hat studiert. Sie denken doch nicht
daran, sich zu bewerben ...« Der junge Engländer lachte und fuhr Delia sanft
über die Wange. »Mein Fräulein, Sie sind viel zu hübsch, um in der Wildnis bei
einem Bauern zu
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