Penelope Williamson
ich auch ein Mann.«
Elizabeth, dachte Caleb. Warum
sah sie ihn immer ängstlich und voll Widerwillen in den Nächten an, wenn er
sein körperliches Verlangen nicht länger unterdrücken konnte? Wenn er mit ihr
schlief, wußte er, daß sie es verabscheute. Wie oft fragte er sich schuldbewußt,
wer von ihnen beiden nicht genug Liebe für den anderen empfand. Aber immer
wieder mußte er seinem Körper nachgeben und sich dann eingestehen: Ich bin doch
nur ein Mann ...
Er hob den Kopf und sah Tyl an. Die Qual in Tyls Augen spiegelte
seinen Kummer wider.
»Es tut
mir leid«, murmelte Tyl.
»Nein,
nein. Ich hätte nicht darüber sprechen sollen.«
»Hat Delia
etwas gesagt?«
»Nein. Sie hat nichts gesagt. Aber bei Delia sind alle Gefühle so
klar und deutlich, ihr Glück, ihr Zorn und ihr ... Kummer. Man sieht eben, was
sie empfindet.«
Tyl zog die Mundwinkel nach unten. »Sie wird mit Nat ein besseres
Leben haben.«
»Ja,
vermutlich haben Sie recht.«
Tyl ging zu seinem Hengst und saß auf. Caleb blieb noch eine Weile
vor dem Pfarrhaus stehen und blickte fragend zum Himmel hinauf. Aber der
silberne Mond verschwand schnell hinter einer dunklen Wolke, und niemand gab
ihm Antwort auf seine Fragen.
Tyl ritt in die Nacht. Er kam an der Mühle und an der Schmiede
vorüber. Er wußte genau, wo inmitten der Bäume die kleinen Holzhäuser standen,
denn alle in Merrymeeting brauchten von Zeit zu Zeit seine Hilfe. Er ritt am
Ufer des Kennebec entlang und sehnte sich nach der Einsamkeit seiner
Blockhütte, die abseits von allen anderen tief im Wald lag.
Er dachte
über die Liebe nach.
Er liebte Delia nicht, zumindest nicht in der
Art wie Reverend Hooker »Liebe« definierte, denn er wußte genau, es war nichts
Sanftes oder Geistiges daran, wenn das Verlangen nach ihr seinen Körper
erfaßte, sobald er ihre rauchige Stimme hörte. Bei ihrem Anblick schoß ihm das
Blut durch die Adern, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Das waren
Symptome der Leidenschaft und Lust, nicht der Liebe. Er hätte klug genug sein
müssen, sich überhaupt nicht mit ihr einzulassen. Oder er hätte auf der Stelle
mit ihr schlafen sollen, dann hätte er inzwischen wenigstens seine Lust befriedigt.
Aber so ...
Gut, er wollte sie noch immer haben. Das mußte er sich eingestehen.
Aber warum sollte er deshalb sein ganzes Leben auf den Kopf stellen? Delia
würde Nat heiraten. Nat war in Ordnung. Dieser brave, anständige Mann würde
gut zu Delia sein, für sie sorgen, und sie würde glücklich werden.
Und ich
behalte meine Freiheit ...
Was willst
du mit deiner Freiheit tun?
Tyl zog es vor, im Dunkel der Nacht, in der er ohnehin keine
Lösung für seine Probleme fand, diese Frage nicht zu beantworten.
Delia stand am
Kai im Schatten der Holzstapel und Masten und starrte auf das tintenblaue
Wasser, auf dem zart die silbernen Mondstrahlen schimmerten. Es war völlig
windstill. Das Meer war spiegelglatt, und die Äste der Bäume regten sich nicht.
Der starke Geruch von nassem Gras und Salz lag schwer in der Luft.
Sie hob den Kopf. Der Himmel schien noch
dunkler als das Wasser zu sein. Die Sterne waren zum Greifen nah. Sie funkelten und
tanzten ausgelassen durch den endlosen Weltraum. Es war ein schöner Anblick, aber Delias Kummer ließ sich dadurch nicht vertreiben.
Sie kämpfte mit den Tränen. In ihrer Verwirrung hatte sie plötzlich den Grund
der erstickenden Einsamkeit vergessen, aber dann fiel es ihr wieder ein: Tyl
war gegangen.
Er hatte die Hookers zum neuen Pfarrhaus begleitet. Delia stand an
der Haustür und sah ihm nach. Er hatte sie sogar noch einmal angelächelt und
gesagt: »Gute Nacht, Kleines. Schlaf gut.«
Das Lächeln hatte ihrem gequälten Herzen gut getan, und der
übliche Spott in seiner Stimme war ihr mittlerweile so vertraut, daß sie sich
nicht mehr darüber ärgerte. Aber jetzt stand sie gleichsam am Rand der Welt und
war allein. Es konnten Tage vergehen, bis sie ihn wiedersah. Sie mußte sich
daran gewöhnen, ohne ihn zu leben. Sie mußte sich mit einer flüchtigen
Begegnung abfinden, wann immer sie ihn zufällig in Merrymeeting sah.
Wie soll ich das jemals ertragen?
Vermutlich würde er ihr aus dem Weg gehen. Sie hatten zwar davon
gesprochen, in Zukunft Freunde zu sein, doch die knisternde Spannung war augenblicklich spürbar, wenn sie
sich ansahen.
Aber qualvoll wurde es durch ihn, es war nicht ihre Schuld. Tyl
machte sich Gewissensbisse, weil er sie verführt hatte. Er machte sich Vorwürfe
über das, was im Wald
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