Penelope Williamson
ich sehe die
Garnspulen schon in meinen Träumen.
Es tat ihm weh, wenn er sah,
wie seine Töchter morgens im Dunkeln müde aufstanden und sich in die Spinnerei
schleppten, wo ihnen bei Schichtbeginn die Sirene in den Ohren heulte und sie
den ganzen Tag die Sonne nicht sahen. Sie waren eingeschlossen mit dem Staub,
den Maschinen und den dicker werdenden Garnspulen, die auch sie irgendwann in
ihren Träumen heimsuchen würden.
Die Sirene heulte schrill. Shay
runzelte die Stirn und ließ einen Augenblick das Ruder los. Das Boot drehte
sich mit flatterndem Segel ächzend gegen den Wind. Es war nicht das kurze
scharfe Sirenengeheul gewesen, das den Schichtwechsel ankündigte, sondern das
lange warnende Geheul, das eine Katastrophe bedeutete.
Er stand
auf, kniff die Augen schützend gegen den scharfen Wind zusammen
... und sah ölige schwarze Rauchwolken aus der Spinnerei aufsteigen, in der
seine Töchter waren. In der sein Leben war.
Emma stand
auf der Treppe, die in den Hof hinunterführte, als das lange, schrille Geheul
der Sirene losbrach.
Gott, o Gott, o Gott ...
Sie rutschte auf den
geriffelten Metallstufen aus und wäre beinahe Hals über Kopf die Stufen
hinuntergestürzt.
Es brennt,
und sie sind dort im Saal eingeschlossen. Brias Mädchen stehen an den
Maschinen, und ich habe versprochen zu kommen. Aber ich kann nicht, ich kann
sie nicht herausholen, weil die Tür abgeschlossen
ist ... es brennt, und die Tür ist zu ...
Arbeiter aus anderen Teilen der Spinnerei rannten hinaus
in den Hof. Überall verbreitete sich dichter schwarzer und grauer Rauch. Emma
entdeckte Mr. Stipple, der sich ein Taschentuch vor das Gesicht hielt und durch
das Tor schwankte, noch bevor sie die unterste Treppenstufe erreicht hatte.
Sie rannte zu ihm und packte
ihn an den Rockaufschlägen: »Mr. Stipple, Gott sei Dank, Gott sei Dank, daß Sie
da sind ... Sie müssen den Spinnsaal aufschließen!«
Er versuchte, sich aus ihrem
Griff zu lösen, und schüttelte den Kopf. Seine kleinen Augen, die wie weiße
Knöpfe in seinem fleischigen Gesicht saßen, waren wie versteinert.
Sie schüttelte ihn und grub die
Finger tiefer in die rauhe schmierige Wolle. »Dann geben Sie mir den Schlüssel.«
Emma schrie ihn an: »Geben Sie mir den Schlüssel!«
Er zuckte zusammen. »Nein, nein. Das geht nicht ...«
»Den
Schlüssel!« schrie sie ihm so laut ins Gesicht, daß er zurückwich.
»Er ist in ... meinem Büro.« Er schüttelte den Kopf und
erklärte entschlossen. »Ich gehe nicht zurück. Das Feuer ist im Raum mit der
Mulemaschine ausgebrochen. Das ist zu dicht, viel zu dicht ...« Sie ließ ihn
los und stürmte durch den Eingang, als die Glocke der Feuerwache weiter oben an
der Straße zu läuten begann.
Der Rock behinderte sie und wickelte sich um ihre Beine.
Deshalb riß sie ihn einfach ab. Sie erreichte die Halle,
wo sich die gelben Stechkarten ordentlich in militärischen Reihen an den Wand
befanden. Sie sah immer noch keine Flammen, doch aus dem Hintergrund wälzten
sich bedrohlich dicke Rauchwolken auf sie zu. Sie mußte sich an der Wandvertäfelung
entlangtasten, um Mr. Stipples Büro zu finden, und dankte Gott dafür, daß es
nicht weit war, denn ihre Augen tränten bereits, und das Atmen schmerzte. Die
Tür war geschlossen. In panischer Angst befürchtete sie, das Büro könnte
ebenfalls verschlossen sein.
Doch der Türknopf drehte sich
leicht unter ihrer Hand. Erst als sie die Tür aufgestoßen hatte, kam ihr der
Gedanke, im Innern könne sie eine Flammenwand erwarten.
Zum Glück
war es nicht so.
Sie warf
die Tür hinter sich ins Schloß und stand in dem Raum, der nach dem Tumult
draußen seltsam dämmrig und ruhig wirkte und in den bisher kaum Rauch
eingedrungen war. Sie keuchte, hustete und atmete dann tief ein.
Sie mußte
sich beeilen ...
Auf dem Weg
zum Schreibtisch stolperte sie über die hochgebogene Ecke des Teppichs, stieß
mit dem Hüftknochen gegen die Kante des Panzerschranks. Doch sie spürte den
Schmerz kaum, denn in diesem Augenblick entdeckte sie an der Wand mit ihrer von
Wasserflecken braunen, sich lösenden Tapete zwei Haken. An einem hing ein abgetragener
schwarzer Bowler und am anderen ein Eisenring mit Schlüsseln.
Mit einem
Sprung war sie an der Wand und griff nach dem Schlüsselbund.
Der
Eisenring war heiß und verbrannte ihr die Finger. Sie erschrak so sehr, daß sie
aufschrie und den Ring fallenließ. Schnell riß sie ein Stück ihres Unterrocks
ab, knüllte den Stoff zusammen und hob die Schlüssel
Weitere Kostenlose Bücher