Penelope Williamson
Haaren landen würde.
Vielleicht konnte er sogar schon ein wenig laufen, wenn sein Vater neben ihm
stand und ihn auffing, sobald er fiel.
Die Tage
würden kommen und gehen, und ihr Sohn würde heranwachsen und all die vielen
kleinen Dinge des Alltags erleben. Aber sie würde nichts von dem mehr sehen ...
Denn im
nächsten Sommer würde sie bereits tot sein.
Elftes Kapitel
Emma hatte schon lange den Eindruck, ihr Leben sei so glatt
und gerade geschnitzt wie ein Stock ohne Kerben, mit Ausnahme der kleinen
Schnitzer, die sie selbst machte, während ein Tag wie der andere verging, um
die Zeit zu unterteilen.
Am Montag
spielte sie mit den beiden Carter-Schwestern Whist. Geoffrey war auch da, und
sie betrachtete immer wieder seinen Mund. Sie versuchte sich vorzustellen, wie
es wohl sein würde, die Umrisse der Lippen mit der Zunge zu berühren ...,
besonders dort, wo sich die Oberlippe hob, senkte und wieder hob. Zweimal
vergaß sie, ihre Trumpfkarte zu spielen.
Am
Dienstagabend sah sie ihn wieder. Die Jüngeren kamen im Keller von St. Michael
zusammen, um für den Heldengedenktag am 30. Mai Papierfähnchen auszuschneiden.
Sie machten sich verstohlen davon, und die anderen gaben vor, es nicht zu
bemerken. Allein spazierten sie über den Friedhof. Der Mond warf ein blaues
Licht auf die Grabsteine, und die Ulmen ächzten im Wind. Diesmal war sein Kuß
rauh und verzweifelt. Erschrocken löste sie sich aus seinen Armen und lief in
die Kirche zurück.
Am Mittwoch
fuhr sie zum Mittagessen zu ihrem Vetter auf die Hope Farm. Es gab
Schildkrötensuppe, überbackene Austern und Spargel. Obwohl es regnete, ging sie
nach dem Essen hinaus zum Zwinger, aber ein anderer Mann war jetzt dort bei den
Hunden.
Am
Donnerstagabend besuchte sie einen Vortrag im Lyceum – >Michelangelo, sein
Leben als Künstler.< Anschließend ging sie in die alte Orangerie und dachte
an den Morgen, an dem sie feststellen mußte, daß ihre Mutter ihr neuestes Werk
>Adam im Paradies vor dem Sündenfall< in Stücke zerschlagen hatte. Damals
hatte sie das Gefühl, als sei auch sie endgültig zerbrochen. Sie war sich so sicher
gewesen, mit ihrem >Adam< endlich etwas Großes und Wahrhaftes zu
schaffen, und das hatte sie jetzt verloren.
Inzwischen wußte Emma, daß sie
kurz vor der Vollendung von etwas Mittelmäßigem gestanden hatte. Heute war sie
froh über die Zerstörung, denn ihr Werk war nicht gut genug gewesen.
Sie empfand
all das, was sie vom Leben nicht wußte und was ihr auf immer verschlossen
bleiben würde, wie ein schmerzendes Loch in ihrer Seele. Sie konnte sich nicht
vorstellen, daß ein anderer als ein Gott den Mut für den Versuch aufbrachte,
aus Lehm die Wahrheit zu erschaffen.
Sie schwor
sich, die Bildhauerei zu vergessen.
Es war
Sonntagmorgen. Wie an jedem dritten Sonntag im Monat brachte sie den Armen in
Goree Essenskörbe. Die Siedlung lag am anderen Ende der Stadt, weit entfernt
vom frischen Meereswind. Kleine Holzhäuschen standen eng nebeneinander. Das
Gras war zertrampelt, und in den engen Gassen hing Wäsche zum Trocknen. An einem
heißen Tag wie diesem verdeckte gelber Rauch die Sonne, und der Gestank von
verbranntem Gummi verpestete die Luft. Er kam von der Gummifabrik, die sich
dort befand.
Jemand
hatte einmal gesagt, die Fabrik produziere fünftausend Paar Gummistiefel im
Jahr. Als Emma in ihrer kleinen schwarze Kutsche an der Gummifabrik
vorüberfuhr, wurde ihr bewußt, daß sie noch nie ein Paar der in Bristol
hergestellten Stiefel gesehen und erst recht keines besessen hatte.
In den
Lebensmittelkörben befanden sich Fischklöße, braunes Brot und gebackene Bohnen
in braunen Steinguttöpfen. Die süßliche braune Sauce schwappte unter den
Deckeln hervor. Die Frauen hielten die Körbe in den schwieligen Händen und
sahen sie mit müden und stumpfen Augen an.
»Nein, mir müßt ihr nicht danken«,
wiederholte sie ständig, wenn die Frauen Dankesworte murmelten. Die Speisen
wurden in der Küche der Kirche gekocht. Emma hatte nichts damit zu tun.
Für Anfang Mai war es
außergewöhnlich warm. Als Emma alle Körbe verteilt hatte, brannte die Sonne
heiß und stechend auf sie herab.
Eigentlich
hätte sie ihre Mutter zum Gottesdienst in St. Michael treffen sollen, aber Emma
fuhr statt dessen aus der Stadt hinaus und auf der Straße, die durch den
Tanyard Wald zur Fähre führte.
Unter
den Bäumen war es kühler. Die grünen Nadeln der Tannen zauberten ein
kunstvolles Spitzenmuster über ihrem Kopf. Zwischen den sich
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