Penelope Williamson
Lippen. Sie war nicht schön, aber sie
besaß ein faszinierendes Gesicht. Die starken Wangenknochen fielen ins Auge.
Aus ihnen sprach Kraft, die von Leid gezügelt wurde. Die Frau hatte das Gesicht
einer Kämpferin.
Emmas
Finger bebten vor Verlangen, dieses Gesicht zu gestalten. Sie würde zuerst ein
Modell aus Ton machen und sich nur auf die Vorderseite des Kopfes
konzentrieren. Wenn das geglückt war, würde sie in ganz dünnem Kupfer nur das
Gesicht wie eine Maske modellieren. So blieben die Knochen dem Auge verborgen
und würden doch mit dem Herzen wahrgenommen werden.
Wenn Bria McKenna aus dem
tiefen Schlaf erwachte, würde sie etwas Nahrhafteres als Tee zu sich nehmen
müssen. Hühnersuppe war angeblich gut bei Tuberkulose. Emma fiel ein, daß sie
am Abend zuvor Fasanen-Consommé gegessen hatten. Es war eine ganze Terrine
gewesen. Vielleicht mußte die Suppe nicht unbedingt mit Huhn gekocht sein,
vielleicht war jede Art Geflügel gut.
Emma stand schon am Klingelzug,
um einen der Dienstboten zu rufen, doch dann beschloß sie, selbst in die Küche
hinunterzugehen, um die Suppe zu holen.
Die Halle
unten war dunkel. Nur zwei Gaslampen, die rechts und links den riesigen
goldgerahmten Spiegel an der Rückwand flankierten, verbreiteten ein düsteres
Licht. Im letzten Jahrhundert war die große geschwungene Eichentreppe von
zahllosen Wachskerzen beleuchtet worden. Eines Abends war eine der Töchter des
Hauses gestolpert und in die Kerzen gefallen. Sie fing sofort an zu brennen.
Der eiserne Reifrock, den sie nach der damaligen Mode unter den Seidenröcken
trug, war schuld daran, daß es dem verzweifelten Vater nicht gelang, die
Flammen zu löschen. Seine Tochter verbrannte. Sie war nicht die erste und nicht
die letzte, die der Legende von dem Fluch der Tremaynes neue Nahrung gab. Man
erzählte, daß das Gespenst der jungen Frau noch immer in der großen
Eingangshalle erschien. Aber solange Emma denken konnte, hatte noch nie jemand
behauptet, sie je gesehen zu haben.
Auf dem
mittleren Treppenabsatz blieb Emma zögernd stehen. Etwas Seltsames lag in der
Luft. Das Haus wirkte jedoch weniger gespenstisch als vielmehr leer und
verlassen. Es war, als sei von den vielen verwegenen, rebellischen und
verfluchten Tremaynes, die hier gelebt hatten und gestorben waren, nichts
zurückgeblieben – nicht einmal die Erinnerungen.
Emma
schüttelte den Kopf. Die Phantasie spielte ihr bestimmt wieder einmal einen
Streich. Sie kam auf solch dumme Gedanken nur deshalb, weil sich die
Dienstboten alle unten befanden. Ihre Mutter und ihre Schwester schliefen und
träumten unter der Wirkung der Schlafmittel.
Die
ledernen Hausschuhe machten kein Geräusch auf den glänzenden Eichenstufen.
Schatten bewegten sich. Draußen zuckte ein Blitz. Das fahle blaue Licht
zersplitterte in den geschliffenen Glasscheiben der Lünette über der Haustür in
tausend Stücke.
Emma blieb
wieder stehen. Sie umklammerte das Treppengeländer und
wartete. Aber es blieb ihr kaum Zeit, Atem zu schöpfen, als der Donner die
Nacht erbeben ließ. Und das Dröhnen und Grollen hörte nicht mehr auf.
Schlagartig wurde Emma bewußt,
daß sie nicht länger den Donner hörte. Jemand hämmerte mit dem Türklopfer, dem
großen Löwenkopf aus Messing, an die dicke Ebenholztür.
Sie ging
noch eine Stufe nach unten.
Die Tür
flog auf und schlug gegen den Marmor der Wand. Der Aufprall hallte in der
Kuppeldecke lauter als der Donner. Der Wind fuhr durch die Eingangshalle. Die
Gaslampen flackerten und erloschen beinahe. Aber sie hatte sein Bild in dem
großen Spiegel bereits gesehen.
Seine
schwarze Matrosenjacke stand offen. Von dem Schlapphut und seinen Haaren
tropfte das Wasser. Hinter ihm hieb der Regen im Licht der Verandalampen wie
mit silbernen Dolchen auf die Erde ein.
Er mußte
im Spiegel ihre weiße Bluse entdeckt haben, denn seine Augen richteten sich
sofort auf den Spiegel, und dort trafen sich ihre Blicke. Eine Welt aus Marmor,
geschliffenem Glas und funkelndem Gaslicht trennte sie.
Er ist
gekommen, dachte Emma.
Er war
gekommen, um sie zu holen. Er wollte sie, und deshalb war er nun da. Er
verkörperte die Unendlichkeit aller Möglichkeiten für sie. Er war gekommen, um
ihr Leben von Grund auf zu ändern. Und diesmal würde sie sich nicht dagegen
wehren.
Er machte einen Schritt auf sie
zu. Emma stöhnte vor Angst, Staunen und Erwartung.
»Ich bin
gekommen«, rief er, »um meine Frau zu holen!«
Vierzehntes Kapitel
Emma saß auf dem dunkelbraunen Ledersitz
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