Penelope Williamson
nicht vertragen. Daran würde
sich kaum noch etwas ändern, nachdem sie erwachsen waren und ihr Vater Geoffrey
das ganze Geld vererbt hatte.
Maddie
hatte erfahren, daß Stuart nicht im Haus in der Hope Street wohnte, sondern im
Hotel Belvedere. In ihrer Erinnerung war das ein heruntergekommenes Haus mit
bröckelnden Backsteinstufen und einer grün lackierten, verzogenen Tür, deren
Farbe bereits abblätterte. Aber vielleicht irrte sie sich. Sie verließ das
Haus nicht mehr. Anfangs war es ihr nicht erlaubt gewesen. Daran hatte sich
nichts geändert, aber inzwischen wollte sie auch nicht mehr weg.
»So«, sagte er. »Deine vulgäre
Neugier ist befriedigt. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Sie zuckte
so heftig zusammen, als habe er sie angefaßt und wachgerüttelt. Sie war mit
ihren Gedanken abgeschweift. Das schien in letzter Zeit immer häufiger zu
geschehen. Der weiße Nebel ihrer Träume legte sich ihr manchmal über die Augen,
auch wenn sie nicht schlief.
Sie starrte ihn mit großen
Augen an wie eine Eule, auf die plötzlich ein Lichtstrahl gerichtet wird.
»Warum
verkriechst du dich in der Bibliothek?« fragte er noch einmal.
Sie
umklammerte den Rand der Decke, die auf ihrem Schoß lag. »Mama sagt, mein
Rollstuhl lenkt die Aufmerksamkeit zu sehr auf mich und meine unglückselige
Behinderung. Damit mache ich meiner Familie Schande.« Sie hob die Hand und
ließ sie hilflos wieder fallen. »Da die Gäste sich unwohl fühlen ... ich meine,
in meiner Gesellschaft, weil ich nur Unangenehmes bedeute ..., bin ich hier ...
nun ja, es geht einfach nicht anders.«
Er wurde plötzlich seltsam
still und schien angespannt zu wirken. Ihr wurde bewußt, daß sie den faux
pas begangen hatte, ihre Behinderung überhaupt zu erwähnen.
»Geht es
wirklich nicht anders?« fragte er mit gepreßter Stimme. Die gestärkte Hemdbrust
knisterte, als er sich vorbeugte, um sie besser sehen zu können. Sie schüttelte
den Kopf, und er hob eine blonde Augenbraue. »Aber ich hatte keine
Schwierigkeiten, eingeladen zu werden.« Er richtete sich auf und lachte leise.
»Dann muß ich wohl die Grenzen der Belastbarkeit der Anwesenden heute abend auf
die Probe stellen. Dazu bin ich jetzt geradezu verpflichtet. Ich glaube, ich werde
so lange trinken, bis ich mich in den römischen Punsch übergebe und auf das
Piano pinkle.«
»Und dann?«
»Und dann was?«
»Wenn du Mamas Abendessen
ruiniert hast, weil sich ihre Gäste unwohl fühlen, wirst du dann Bristol wieder
verlassen?«
»Wenn es mir gelungen ist, von
meinem geizigen Bruder genug Geld zu bekommen, werde ich in der Tat wieder
gehen.« Er hob die Hand und bewegte sie wie einen flatternden Flügel. »Ich
werde weit, weit wegfliegen ...«
Eine
Bewegung draußen im Garten lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Emma und Geoffrey
gingen gemeinsam über den Gartenweg. Sie hatte ihren Arm unter seinen
geschoben. Das Licht, das durch die Glastüren des Wohnzimmers fiel, hüllte das
Paar in eine goldene Wolke. Die Spaliere der chinesischen Wisteria umrahmten
sie wie eine Hochzeitslaube.
Während
Maddie die beiden beobachtete, nahm Geoffrey Emmas Hand von seinem Arm, und sie
blieben stehen. Sie sahen sich an. Er hatte beide Hände um ihre Hand gelegt. Er
blickte auf sie hinunter, und sie hatte den Kopf gehoben und sah zu ihm auf.
Maddie konnte aus der
Entfernung das Gesicht ihrer Schwester nur als ein weißes Oval erkennen, aber
sie zweifelte nicht daran, daß sie ihren Verlobten voll Bewunderung ansah. Wie
immer war sie atemberaubend schön.
Bei diesem Anblick empfand
Maddie nichts als glühenden Neid. Er brannte in ihr wie ein ätzendes Gift.
Sie wollte,
wollte, wollte ...
Sie wollte
nichts anderes als Emmas Beine und Emmas Gesicht. Vor allem anderen wollte sie
Emmas Beine, mit denen sie mit einem Mann an einem Sommerabend durch den Garten
spazieren, mit ihm auf dem Verlobungsball tanzen und durch die Kirche zum
Traualtar gehen konnte.
Maddie wollte das Leben führen,
das Emma bevorstand – das Haus in der Hope Street, den reichen Ehemann, der sie
anbetete, und die Gesellschaft, die ihr bewundernd zu Füßen lag. Es zählte
dabei nicht, daß sie ihre Schwester liebte.
Das tat sie wirklich. Aber ihre Liebe konnte den alles verzehrenden Neid nicht
verhindern. Maddie wollte all das haben, was Emma hatte, und sie würde nichts
davon bekommen.
Stuart beobachtete inzwischen
ebenfalls Emma und seinen Bruder. Was mochte er bei dem Anblick der beiden,
denen ein so glückliches, vollkommenes Leben
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