Penelope Williamson
nicht. Denn solche
öffentlichen Verstöße gegen die Etikette überging man am besten, so wie man
alles Unangenehme einfach nicht zur Kenntnis nahm. Die Vorwürfe und
Zurechtweisungen kamen später unter vier Augen.
Stuart
stand jedenfalls bis zu den Schößen seines Gehrocks im Wasser des
Springbrunnens. Die elegante karierte Hose war völlig durchnäßt, und das Wasser
tropfte ihm sogar aus den Haaren. Er war bleich, und in seinen Augen lag ein
merkwürdiger Ausdruck. Erstaunlicherweise richtete sich sein Blick auf sie, das
kleine Mädchen.
»Maddie?« fragte er, und in
seiner Stimme lag Verzweiflung. »Du bist böse auf mich, nicht wahr,
Maddie?«
»Natürlich
bin ich böse auf dich, Stuart!« rief sie zurück, denn sie verstand seine Frage
nicht. Weshalb wollte er aus ihrem Mund einen Vorwurf hören. »Du bist
frech und ekelhaft. Ich finde dich wirklich abscheulich.«
In ihren
Augen brannten Tränen der Scham – der Scham und der Enttäuschung. Sie schämte
sich für ihn, für sein Verhalten, und sie war über sich selbst enttäuscht, denn
ein Teil von ihr hatte bereits begriffen, daß er eines Tages eine Frau lieben
würde, die ebenfalls zu ihm in den Brunnen gesprungen wäre. Aber Maddie
Tremayne konnte diese Art Frau nicht sein, die den Mut hatte, sich gegen die
ganze verlogene Welt zur Wehr zu setzen.
Am nächsten Tag ließ ihn sein
Vater gegen seinen Willen in die Irrenanstalt nach Warren bringen. Dort mußte
er ein Jahr lang bleiben. Als er entlassen wurde, kehrte er nicht nach Hause
zurück.
Im Jahr
seiner Schande war er neunzehn gewesen. Sie hatte ihn damals für einen Mann
gehalten. Erst jetzt begriff Maddie, daß er in vieler Hinsicht noch ein Junge
gewesen war. Dieser Junge hatte verzweifelt versucht, irgend jemanden auf sich
aufmerksam zu machen. Er wollte nur von einem mitfühlenden, liebevollen
Menschen zur Kenntnis genommen werden. Deshalb hatte er in seiner Verzweiflung
sogar auf sie, die Zwölfjährige, gehofft.
Maddie sah
ihn jetzt aufmerksam an. Er war größer als in ihrer Erinnerung. Sein
Oberkörper war kräftiger, und die Schultern schienen sehr viel breiter. Aber er
hatte sich auch sonst verändert. Die Anteilnahme war zusammen mit dem Lachen
aus seinem schmalen Gesicht verschwunden, nur die trotzige Wildheit war noch
vorhanden.
Es wurde
ihr plötzlich bewußt, daß sie nicht nur ihn ansah, sondern daß er auch sie sehr
eindringlich musterte. Sie ließ beschämt den Kopf
sinken und starrte auf die zur Faust geballten Hände im Schoß. Sie wußte, daß
er sich ihren Zustand bewußtmachte. Er sah die leblosen Beine und den
Rollstuhl. Trotzdem sagte er noch immer nichts.
Als sie es schließlich wagte,
ihn wieder anzusehen, entdeckte sie kein Mitlied in seinen Augen, sondern nur
eine Art Müdigkeit und eine zarte Behutsamkeit, die er versuchte, nicht zu
zeigen.
»Wenn ich
es tue«, sagte sie, »dann tust du es auch.«
Er lächelte sie jungenhaft
strahlend an. »Wirklich?« Er schob die Rockschöße beiseite und setzte sich auf
die Erkerbank. Er lehnte sich zurück, legte einen Arm auf die Fensterbank und
kreuzte die Beine. »Mein liebes Kind, kläre mich auf, was wir in diesem
Augenblick genau tun. Und bitte sag mir auch, daß es uns Spaß macht.«
»Wir
verstecken uns hier.«
Er tat so,
als sei er enttäuscht. »Ach, das meinst du. Ich verstehe. Weißt du, offenbar
habe ich nicht nur die unverzeihliche Sünde begangen, viel zu spät zu kommen,
sondern ich habe auch die perlgrauen Handschuhe vergessen, die für eine
Abendgesellschaft unbedingt erforderlich sind.« Er hob die in der Tat
unbehandschuhten Hände. Maddie bezweifelte, daß er die Handschuhe vergessen
hatte. Vermutlich wollte er bewußt Anstoß erregen.
»Geoffrey
hat mir einen vernichtenden Blick zugeworfen«, fuhr er mit einem kalten Lachen
fort. »Der Zorn hat nicht nur sein gutes Aussehen beeinträchtigt, sondern auch
meine zarten Gefühle verletzt. Und deshalb, mein liebes Kind ...«, er lachte
noch einmal mit jungenhaftem Mutwillen, »bin ich hier!«
»Bist du
hier ...«, wiederholte sie so fröhlich und heiter wie möglich. Sie bemühte sich
zu lächeln, zeigte ihm damit aber zweifellos nur, daß sie eine dumme Gans war,
die höchstens Mitleid verdiente. Also er war da, sie war da. Sie waren wieder
alle beisammen. Aber Maddie hatte sich von ihnen allen am meisten verändert ...
und Willie. Willies Veränderung bestand darin, daß er völlig verschwunden war.
Stuart und Geoffrey hatten sich schon als Jungen
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