Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
existierte. Irgendwo – er wußte nur noch nicht, wo – bewahrte eine Frau die besten Spuren des Ertrunkenen auf ihrer Haut.
Es wurde Abend in Amsterdam. Carvalho verwünschte die Zeit, die er damit vertan hatte, durch Den Haag zu laufen. Er verzehrte wieder Pumpernickelhappen mit Matjes und Zwiebeln. Das kühle Bier zum Abschluß würde ihm die Verdauung erleichtern. In kluger Voraussicht fragte er ein paar junge Frauen nach der Rokinstraße. Sie lag ganz in der Nähe des Bahnhofs und seines Hotels, auf der anderen Seite des Dam. Er beschloß, zu Fuß zu gehen, obwohl es eine günstige Straßenbahnverbindung vom Bahnhof zum Museumsviertel gab. Die Rokin setzte den Damrak auf der anderen Seite des Dam fort und endete in der Tat ganz in der Nähe des Rembrandtplein. Auf dem Dam wimmelte es von Hippies, denen ein kleines Häuflein engelhafter Jünglinge auf Brustschildern aus gelbem Plastik ihre Propaganda für die Familie und deren Tugenden entgegenhielten. Die Hippies, echte Komantschen nach der allerverlorensten Schlacht gegen das Bleichgesicht, lagen sterbend auf den Stufen des Damplatzes, während die engelsgleichen Reaktionäre ihnen die Vorzüge des Patriarchats oder Matriarchats priesen.
Carvalho hatte Rokin Nummer 16 gefunden und betrat ohne Zögern den Hausflur. Die Holztreppe führte ihn zu dem neonbeleuchteten Schild ›Patrice Hotel‹. Eine im Halbdunkel des Empfangsraumes kaum sichtbare Angestellte öffnete ihm die Tür. Er trat ein und wartete das Ergebnis der Recherchen der Frau ab. Die Möblierung war unverkennbar inländischer Herkunft, ganz in der Art bürgerlicher Puppenstuben, die den traditionellen holländischen Stil kennzeichnet. Dann trat die unbezweifelbare Patrice auf, mit einem Körper, der schon etwas alt und dick, aber mittels Korsettierung in Form gebracht war, und einem Gesicht, das eine kundige Hand mit Temperafarben restauriert hatte. Carvalho erzählte ihr, er sei aus Spanien angereist, um einen entfernten Verwandten zu suchen. Die Familie mache sich Sorgen, weil man seit etwa zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört hatte. Julio Chesma. Daß er in dieser Pension gewohnt habe, sei das letzte, was man von ihm wisse.
»Hier? Ich erinnere mich nicht. Warten Sie einen Augenblick!« antwortete sie in gebrochenem Englisch. Sie kam wieder in Begleitung eines großen, korpulenten Holländers, der dem Inspektor, der ihn im Hotel befragt hatte, so sehr glich, wie nur ein großer, korpulenter Holländer einem anderen großen, korpulenten Holländer gleichen kann.
»Herr Singel spricht kein Englisch, aber er hat ein sehr gutes Gedächtnis«, verkündete Patrice und erklärte dem Hünen auf holländisch, worum es ging. Dieser betrachtete währenddessen Carvalho mit einer gewissen liebevollen Treuherzigkeit. Nicht umsonst glauben die holländischen Kinder, daß der Nikolaus aus Spanien kommt. Er antwortete Patrice etwas auf holländisch.
»Sehen Sie! Mein Mann hat ein besseres Gedächtnis als ich. Sie haben recht. Ihr Verwandter war tatsächlich unser Gast. Aber er zog vor zwei Jahren aus, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er war ein großartiger Junge. Sehr diszipliniert. Genau das. Sehr diszipliniert.«
Mehr erfuhr Carvalho nicht, außer daß er ein ordentlicher Gast gewesen sei. Von seiner Arbeit wußten sie nichts, nur daß er ziemlich viel freie Zeit gehabt hatte. Damenbesuch hatte er selbstverständlich keinen bekommen, und Freunde oder Freundinnen kannten sie auch nicht. Nicht einmal diese Art Informationen kam von Patrice selbst. Es war der Ehemann, der sie preisgab, und sie übersetzte sie ins Englische.
Carvalho drückte seine Zufriedenheit aus über das gute Bild, das sie von seinem Verwandten hatten.
»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als mich bei der Polizei zu erkundigen. Vielleicht wissen sie etwas.«
Der Holländer war drauf und dran, direkt zu antworten. Aber er beherrschte sich und bestaunte Carvalho weiterhin mit einem treuherzigem bewunderndem Blick wie den Nikolaus. Seine Frau wiederholte das Ritual der Dolmetscherin und kehrte nach kurzer Zeit aus Babylon mit der Antwort zurück: »Vielleicht weiß die Polizei mehr als wir. Sie haben ein gutes Informationsnetz und überwachen die Ausländer sehr genau.«
Carvalho verabschiedete sich. Er ging hinunter auf die Straße und blieb ein paar Türen weiter vor einem Weingeschäft stehen. Dann entdeckte er, daß er von einer Buchhandlung, die dem Patrice Hotel gegenüberlag, überwachen konnte, wer
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