Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
Kommunikationshindernisse signalisierte, ahnte Carvalho, daß er etwas betrunken war, denn unter solchen Umständen hatte er noch nie den Versuch unternommen, Kellner intellektuell zu verführen.
Er verließ das Restaurant, ohne daß er Lust gehabt hätte zu fragen, ob der galicische Koch noch da sei, den er nach dem unbeschreiblichen gefüllten Truthahn in Granatapfelsauce bei seinem letzten Besuch beinahe geküßt hätte. Er ging zum Bahnhof und betrachtete unterwegs die Auslagen der großen Geschäfte. Dabei kam ihm die Idee, für Charo etwas Chinesisches zu kaufen. Er ging durch die arkadenüberwölbten Gäßchen im Herzen des Geschäftszentrums und erstand eine chinesische Jacke ›made in Hongkong‹. Dann begab er sich schnurstracks in den Stadtteil der Majestäten. Die holländische Flagge wehte vom Rathausbalkon, ein protokollarischer Beweis, daß ein Mitglied der königlichen Familie in Den Haag weilte. Mit touristischer Einfalt bestaunte er den Palast des Internationalen Gerichtshofs. Ein Tier mit beträchtlichem Darmvolumen hatte auf den Rasen vor dem schmiedeeisernen Portal gekackt. Carvalhos Blick schweifte von dem prunkvollen Scheißhaufen zu einem Papagei, der durch die Straßen flanierte auf der Schulter einer alten Dame, die die beneidenswerte Phantasie besessen hatte, das Transistorradio durch ein Geschöpf aus Fleisch und Federn zu ersetzen. Carvalho steuerte bereits entschlossen auf den Bahnhof zu. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß seine Arbeit Erfolg gezeitigt hatte, und zwar etwas mehr als die Kenntnis der sexuellen Probleme von Arbeitsemigranten und auch etwas mehr als das exzellente Essen. Der Körper, den das Meer in Vilasar de Mar wieder ausgespuckt hatte, besaß immer noch kein präzises Gesicht, hatte aber mittlerweile einen Namen und ein paar Daten in seinem Lebenslauf. In der Tat wußte er schon alles, was Señor Ramón von ihm verlangt hatte: einen Namen. Jener Name für ein Gesicht, das die Fische des Mittelmeeres gefressen hatten, wurde bis jetzt ergänzt durch die Information des Tätowierers aus Murcia und des Arbeitskollegen aus Den Haag. Er hätte jetzt mit nichts weiter als dem Namen des Ertrunkenen nach Spanien zurückkehren können, aber inzwischen hatte sich ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem großen jungen Mann gebildet, der so blond wie das Bier war. Ein Verhältnis, das Carvalho anspornte, die Nachforschungen in Holland so lange und so weit wie möglich fortzusetzen. Ein junger Mann, dessen Phantasie im Streit mit der Realität lag. Die Realität war sein Leben als Arbeitsemigrant. Die Phantasie trieb ihn zum Abenteuer der freien Zeit, befreit aus dem Knast der Uhr, die das Betreten und Verlassen des Räderwerks der Fabrik markierte. Um diesem Räderwerk zu entkommen, hatte er keine Hemmungen gehabt, sich unter den ökonomischen Schutz der Frauen zu begeben. Carvalho verachtete Zuhälter. Aus Erfahrung wußte er, daß sie die schlimmsten Bestien der Unterwelt waren, obwohl er auch einen kannte, der sehr gefühlvoll war. Er hatte sich darauf spezialisiert, den Spatzenkindern, die der Mai auf die grauen Steinplatten des Gefängnishofs von Aridel schleuderte, die gebrochenen Beinchen mit Zahnstochern zu schienen. Carvalho erinnerte sich daran, mit welchem Zartgefühl und welcher Geduld der Zuhälter den erschreckten Vögelchen beruhigende Worte ins erahnte Ohr flüsterte, und seine groben Finger tanzten mit chirurgischem Geschick um Zahnstocherstückchen und Faden, die die Schiene bildeten. Jener hünenhafte Zuhälter hatte im Gefängnis gesessen, weil er seinen Schützling zu Tode geprügelt hatte.
Aber im Fall des großen Blonden gab es beachtliche und dankenswerte Unterschiede. Der bemerkenswerteste waren die einhunderttausend Pesetas, die ihm Señor Ramón bezahlte. Und dann der Wortlaut der Tätowierung. Die Herausforderung eines Renaissancefürsten auf dem Körper eines Arbeitsemigranten, der Zuhälter und am Ende ein gesichtsloser Fischmensch geworden war, umwittert vom Geheimnis eines amphibischen Tieres ohne Gesicht und Identitätskennzeichen.
Die Matrosen frag ich nach ihm
,
keiner weiß, ob er tot ist oder lebt
.
Ich zweifle weiter und suche ihn treu
…
Vor einem Glas Schnaps, an der ermüdeten Theke, setzte die Frau aus dem Lied ihre hartnäckige Suche fort nach dem Mann, der in einem Schiff mit ausländischem Namen gekommen war und auf der Brust, über dem Herzen, eine Tätowierung trug. Carvalho war überzeugt, daß diese Frau in diesem Fall
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