Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
dort ein und aus ging. Er betrat die Buchhandlung und widmete ein Auge einem Stapel Bücher mit Graphiken der zwanziger Jahre und das andere dem Eingang des Hotels. Das Warten hatte etwas Irreales, weil alles so normal sein konnte, wie es den Anschein hatte; auch konnte sich das Ehepaar Singel alle Zeit der Welt lassen und nicht vor dem nächsten Tag aus dem Haus gehen. Zwanzig Minuten später hatte er schon fast alles durchgeblättert, was weltweit über die Graphik aus der Zwischenkriegszeit erschienen war. Zu einem anderen Regal konnte er nicht gehen, ohne den Hoteleingang aus den Augen zu verlieren. Nach einer halben Stunde kam Singel heraus und steuerte seine geklonte Korpulenz in Richtung Dam. Carvalho folgte ihm. Singel bewegte sich sorglos. Auf dem Dam wartete er auf eine Straßenbahn, und Carvalho fand genug Zeit, ein Taxi anzuhalten und den Chauffeur zu bitten, einen Moment zu warten. Der Fahrer war genauso hysterisch wie alle Taxifahrer in Amsterdam und protestierte dagegen, daß er warten und einer Straßenbahn folgen sollte. Carvalho gab ihm zehn Gulden Vorschuß, und sein Widerstand schmolz dahin. Er stieg aus und stocherte im Motorraum herum, falls es Ärger geben sollte, weil er in der zweiten Reihe stand. Dann kam Singels Straßenbahn, und das Taxi nahm die Verfolgung auf.
Es dauerte nicht lange. Die Straßenbahn erreichte den Leidseplein, Singel stieg aus und betrat eine überfüllte Kneipe neben einem Restaurant für Fischspezialitäten. Das gastronomische Repertoire der Holländer an Fischgerichten endet mehr oder weniger bei den hervorragenden frischen Matjes- oder Räucherfischhappen mit Zwiebeln, die es in allen Städten und Dörfern an Straßenständen gibt. Durch die Fensterscheiben konnte Carvalho beobachten, wie sich Singel an einem Tisch niederließ, an dem bis jetzt nur ein Mädchen in Hippiekleidung gesessen hatte. Er redete ernst mit dem hinfälligen Mädchen. Sie trug die Haare wie Angela Davis, aber blond gefärbt, die Augen hatte sie in einem schmutzigen Erdbraun geschminkt, und ihr Körper steckte im Fell eines Lamms, das wahrscheinlich direkt auf dem Körper des Mädchens geopfert und zum Mantel verarbeitet worden war.
Das Gespräch war kurz. Das Mädchen erhob sich, und Singel folgte ihr. Vom Eingang eines nahen Kinos, in dem
Fritz the Cat
lief, beobachtete Carvalho, wie Singel in die Richtung zurückkehrte, aus der er gekommen war. Das Schafsmädchen überquerte den Leidseplein und ging in Richtung Weteringschans. Wohin ihn Singel bringen konnte, wußte er bereits, das Mädchen dagegen führte ihn auf eine neue Spur, und dieser folgte Carvalho. Am Leidseplein begann ein kleines, fröhliches Viertel: ein Rotlichtviertel in verkleinertem Maßstab, mit Restaurants, dem einen oder anderen Nachtclub und Sexshops. Das Mädchen durchquerte das Viertel und bog an einer Ecke rechts ab. Vor ihnen tauchte eine seltsame Kirche auf, deren Fassade im Popgeschmack vielfarbig bemalt war. Es war das
Paradiso
, eine ehemalige Kirche, die die Stadtverwaltung der Jugend von Amsterdam geschenkt hatte, mittlerweile ein Mittelding aus Kathedrale des musikalischen und plastischen Pop, Café mit Kleingebäck, zu dessen Ingredienzien weiche Drogen gehörten, Freizeitzentrum inklusive Zeitungsarchiv und Cinemathek und Geschäftszentrum für die relative Kaufkraft der Hippiewelt.
Carvalho mußte zunächst Mitglied werden, bevor er eintreten durfte. Zwei Gulden und Eintritt extra, eine Formalität, die er bis jetzt nur in Nachtclubs mit ›Live-Show‹ erfüllt hatte. Alle verschiedenen Abteilungen der Kirche wimmelten von Einwohnern von
Hippylandia
, sie saßen sogar auf den Treppen, die links und rechts zu den Versammlungsräumen des ersten Stockwerks hinaufführten. Das Mädchen schmuggelte sich durch den mittleren Eingang in den Chor, wo gerade eine Popgruppe auftrat. Sie spielten vor dem Hintergrund eines Bildschirms, auf dem die psychedelische Musik filmisch untermalt werden sollte. In der Apsis saßen die Leute in regelmäßigen Reihen, während in den Seitenschiffen die Leiber ein wirres Durcheinander liegender, gelangweilter Menschheit bildeten, die nur ab und zu ein Beben der Solidarität mit der Musik erschütterte. Es roch durchdringend nach weichen Drogen. Carvalho fühlte auf seinem Körper Dutzende von Blicken. Mit seinem Übergangsanzug trug er die Kleidung eines neokapitalistischen Marsbewohners. Hinzu kam, daß sein Haar genau am Rand des Hemdkragens aufhörte. Er fühlte sich wie ein
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