Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
Nein, es sei nicht viel los heute nacht. An Wochenenden gebe es viel Andrang, aber hauptsächlich Touristen. Ausländer oder Holländer aus dem Binnenland, die das Inferno von Amsterdam erleben wollten. Das Mädchen hatte das Wort »Inferno« mit ironischem Unterton ausgesprochen. Carvalho stellte die Pflichtfrage: ob sie spät aufhöre und nach der Arbeit schon etwas vorhabe.
»Eine Menge«, war die Antwort.
»Gutes oder Böses?«
»Wie man ’s nimmt.«
Und das Mädchen lachte. Mehr bekam Carvalho nicht aus ihr heraus. Sie hatte eine Menge vor, und es war gut oder böse, je nachdem. Eine Verteidigungsstrategie, auf die die Kellnerin wohl jede Nacht zwanzigmal zurückgriff, und Carvalho entschloß sich, sie um etwas weniger Verfängliches zu bitten, nämlich um ein weiteres Bier. Die drei standen immer noch da, ohne Anzeichen von Eile zu zeigen, und schütteten den Kaffee wie Wasser in sich hinein, obwohl der Kaffee hier dem Espresso ziemlich nahekam. Buffalo Bill schaute wieder auf die Uhr, und nun setzte sich die Gruppe in Bewegung. Carvalho ließ sie vorausgehen. Aus dem Augenwinkel begutachtete er das Schafsmädchen im hellen Licht und stellte fest, daß sie weder häßlich noch hübsch war, sondern ganz das Gegenteil. Sie hatte dieses geschlechtslose Antiimage erreicht, mit dem sich emanzipierte Frauen gegen ihr Image als Sexualobjekt zu Wehr setzen. Die Frauen hatten ihr Ziel der Enterotisierung erreicht. Carvalho sah allerdings voraus, daß sie ihre männlichen Partner an die neue Form gewöhnen würden und daß sich Frauen, um Objekt zu werden, in nicht allzu ferner Zukunft als Antifrau-Objekt oder Antiobjekt-Frau kleiden mußten.
Mit dem Blick eines Fleischereidiebs verabschiedete sich Carvalho von den Schenkeln der Kellnerin. Das Trio schlenderte sorglos zu der Gracht im inneren Bereich der Roten Laterne. Eine Schar Neugieriger drängte sich um eine Kapelle der Heilsarmee, die im Schlund des Amsterdamer Infernos erbauliche oder warnende Psalmen sang. Die Prostituierten verfolgten die virtuose Inszenierung der Heilsarmee aus ihren Schaufenstern. Ein paar Frauen aus dem Viertel hatten sich der Gruppe der Uniformierten angeschlossen, um ihren schweigenden, unterdrückten Protest auszudrücken, Protest gegen das, was den Charakter des Viertels seit Adams und Evas Zeiten prägte, zumindest jedoch seit seiner Entstehung in nächster Nähe des Hafens und des Hauptbahnhofs, welcher Kleinstädter und Bauern mit hungrigen Lenden in die Stadt entließ. Die Neugierigen und Hungrigen betrachteten die musikalisch-theatralische Predigt mit der Herablassung eines Sportpublikums angesichts eines samoanischen Tanzes, den eine Gruppe zarter Jünglinge bei der Verabschiedung von der Realschule aufführt. Die Bäume, die Lichter, ihr Widerschein auf dem Wasser, die ruhige Architektur der Häuser, die Sittsamkeit der Prostituierten, die Schweigsamkeit der Passanten, all das machte das Viertel der Roten Laterne zum glatten Gegenteil eines Sündenpfuhls. In diesem Zusammenhang klangen die Gesänge der Heilsarmee wie Paso dobles zum Semesterabschluß.
Das Trio schien das glänzende Schauspiel satt zu haben. Buffalo Bill, eindeutig der Anführer, befragte wieder einmal seine Uhr, und die drei gingen das rechte Grachtufer entlang. Sie sahen sich die Eingänge der Nachtklubs mit ›Live-Show‹ an, die Plakate der Kinos, die Pornos vorführten, und den Eingang des sogenannten Sexmuseums, das in Wirklichkeit nur der Aufreißer für das umsatzstärkste Geschäft des Viertels war. Sie betraten das Museum, und Carvalho war verblüfft, denn dies gehörte weder zur Lebensweise der Hippies noch zu den Gepflogenheiten der eingesessenen Bevölkerung. Es war, als würde ein Pariser Clochard plötzlich das Lido besuchen, auf den Eiffelturm steigen oder einen Ausflug nach Versailles machen. Vielleicht ging es um
camp
-Ästhetik. Vielleicht versuchten die jungen Leute, für einen Moment sexuelle Nippes wiederzuentdecken, um sich darüber lustig zu machen oder ihre ungeheure Naivität zu genießen.
Carvalho ging durch das kleine Museum, das zum Laden im Untergeschoß führt. Wenn überhaupt, dann hätte er sich ein Sadokostüm gekauft, das mit ziemlicher Sicherheit Charo amüsiert und zum Lachen oder zum Weinen gebracht hätte. Charo war gegen alle Schrecken gefeit, nur nicht gegen eine gewisse Schließmuskelschwäche, die das Lachen vom Weinen unterscheidet. Wieder befragte Buffalo Bill die Uhr, und und das Trio trat auf die Straße
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