Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
mitten in die Brust gerammt.
Die feuchte Luft schmerzte, als sie in seine Lungen strömte. Die Augen knapp über Wasser, versuchte er, am Ufer die Gestalten der Angreifer auszumachen. Anscheinend war niemand mehr da. In der Dunkelheit konnte er den noch tieferen Schatten der Brücke erkennen, unter der die Gracht verschwand. Er tauchte wieder unter und schwamm dorthin. Im Schutz des Brückenbogens tauchte er auf und klammerte sich an einen Spalt im Mauerwerk. Er beschloß, lange genug zu warten, um mit einer gewissen Sicherheit unbehelligt aus dem Wasser steigen zu können. Kein Laut war zu hören, und in der Stille plätscherte das Wasser um so lauter, das aus seinen Ärmeln troff. Die Aufregung hatte die Kälte in Schach gehalten, jetzt aber klapperte er mit den Zähnen. Ekel, Furcht und ein tiefes Selbstmitleid erfüllten ihn. Er stellte sich vor, die Brücke würde sich plötzlich mit gefräßigen Ratten bevölkern, und die panische Angst vor den Ratten war stärker als sein Wunsch, erst aus dem Wasser zu steigen, wenn seine Sicherheit garantiert war. Verzweifelt suchte er im Mauerwerk der Gracht nach einer Möglichkeit, nach oben zu klettern. Mit den Fingerspitzen zog er das Gewicht seines Körpers hoch, der durch das Wasser, mit dem seine Kleidung vollgesogen war, noch schwerer war. Er roch die zähflüssige Säure des Wassers, das seine Haut, Haare und Kleidung verklebte. Seine Verletzungen brannten, ein Auge war beinahe zugeschwollen.
Mit dem Kopf war er schon über dem Rand des Ufers. Dann hievte er sich vollends hoch und blieb, Gesicht nach unten, direkt an der Gracht liegen. Sein Atem beruhigte sich allmählich, aber die Kälte nahm zu. Kein Laut war zu hören, nur aus der Ferne drangen Fetzen von Verkehrslärm. Er beschloß sich aufzurichten. Es gelang ihm, er blieb still stehen und wartete, ob sein Auftauchen irgendeine Reaktion seiner Angreifer auslösen würde. Nichts. Da rannte er los. Ein gespenstischer Lärm begleitete ihn, der Lärm seiner nassen Schuhe, die sich wie Saugnäpfe ans Pflaster hefteten. Je mehr er an Wasser verlor, desto schneller wurde er. Seine Kleidung klebte an der Haut wie ein Korsett. In diesem Zustand konnte er sich weder in ein Taxi setzen noch über belebte Straßen in sein Hotel zurückkehren, wenn er nicht auf einer Polizeiwache landen wollte.
Müde setzte er sich auf ein paar winzige Stufen, die zu einem Laden im Kellergeschoß führten. Dort entdeckte er mehrere Mülltonnen, aus denen alte Zeitungen herausquollen. Er nahm einige Seiten davon. Zog Jacke und Hemd aus und trocknete seinen Körper mit den Zeitungen ab. Manchmal stöhnte er leise auf, wenn er dabei Quetschungen oder eine tiefere Schramme frottierte. Sein Hemd wrang er aus und warf es zusammengeknüllt in eine Mülltonne. Dann versuchte er, das Jackett etwas auszupressen, und zog es wieder an, die Revers umgeklappt, damit sie die ganze Brust bedeckten. Nun zog er Hose und Unterhose aus, und der flüchtige Anblick seiner Geschlechtsteile stimmte ihn heiter. Das wäre die richtige Situation, um wegen Exhibitionismus verhaftet zu werden! Die Unterhose warf er ebenfalls in die Mülltonne. Dann trocknete er den restlichen Körper ab, drückte die Hose aus und zog sie an. Dem soliden Material der Jacke und der Hose sah man die Feuchtigkeit nicht an. Schließlich trocknete er noch seine Füße und brachte mit den Fingern notdürftig die Haare in Ordnung.
Wenn er über wenig beleuchtete Straßen zurückkehrte, würde niemand seinen Zustand eines soeben Gestrandeten bemerken. Den Revolver hatte er im Hotel gelassen, um größere Konflikte zu vermeiden. Er ging also völlig unbewaffnet an der Gracht entlang, nicht weit von einem wuchtigen neoklassizistischen Gebäude, das von den Laternen eines kleinen, baumbestandenen Platzes beleuchtet wurde. Er wollte noch vor diesem Platz in die nächste Straße einbiegen, die rechts abging, um zum Waterlooplein zu kommen, hörte hinter sich ein Auto und flüchtete wieder ein Treppchen zu einem weiteren Kellergeschoß hinab.
Sekunden später fuhr ein Streifenwagen vorüber. Carvalho beobachtete, wie er auf dem Platz anhielt. Die Beamten stiegen aus und betraten den erleuchteten Eingang des Gebäudes. Von seinem Standort sah er, daß wenige Meter vor dem Eingang zur Wache eine Straße in die Richtung abzweigte, in die er wollte. Er ging dorthin und ließ den Eingang der Wache nicht aus den Augen.
Dann bog er in die Straße ein und eilte zum Waterlooplein. Er hoffte, die Bewegung
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