Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
Süßholz raspeln oder die Sache auf dem Niveau einer Trauerfeier zum Gedenken des verlorenen Geliebten belassen sollte. Er brauchte nur zu sagen: ›Ich bedaure, daß wir uns unter so dramatischen Umständen kennenlernen mußten. Haben Sie heute abend schon etwas vor?‹ Das Grinsen des Gesichtes erweckte das, was das Gehirn dachte. Als er sich zu Señora Salomons umwandte, war sein Gesicht zur Maske des Geschäftsführers eines Bestattungsunternehmens erstarrt, der sich bei der Witwe erkundigt, ob der Service zu ihrer Zufriedenheit gewesen sei.
»Ich bin untröstlich, daß Sie all das erleben mußten. Aber es gibt Erinnerungen, die man besser vergißt.«
Der Kopf der Witwe sank auf ihre Brust. Carvalho befürchtete schon einen erneuten Weinkrampf. Aber sie hob das Gesicht, und ihre feuchten Augen lächelten in trojanischer Heiterkeit angesichts der Vorbestimmtheit von Schicksal und Tod. Carvalho warf einen letzten Blick auf den Körper der Trojanerin, die litt, aber entschlossen war, weiterhin am Wegesrand der Kultur nach resozialisierbaren, vielversprechenden, hypersensiblen jungen Männern und guten Kämpfern im Bett zu suchen, solange ihre Haut noch straff und ihr Fleisch noch fest wäre.
Der Polizist wusste nicht, ob Kayser im Hause war. Eine Minute später betrat der rotblonde Inspektor das Büro, der ihn zweimal im Hotel besucht hatte. Kayser sei da und komme sofort. Er bot Carvalho wieder einen seiner zahnstocher-artigen Zigarillos an. Carvalho rauchte normalerweise nur schwere Zigarren, aber er bediente sich, weil er kleine Lekkerbissen liebte.
»Haben Sie etwas Interessantes für Kayser?«
»Ja, ich will mich verabschieden. Morgen früh fliege ich.«
»Eine interessante Neuigkeit. Sie haben uns große Sorgen bereitet, Señor Carvalho!«
»Ganz ohne Grund. Ich bin als einfacher Tourist hier.«
»Wie ich sehe, ist Ihr Auge besser geworden. Gestern gab es zwei Überfälle im Rotlichtviertel.«
»Scheint ein ruhiges Viertel zu sein!«
»Der Schein trügt.«
Die Glastür öffnete sich, und nach dem Arm schob sich ein Mann ins Büro, der nicht weniger hünenhaft war als der Rotblonde und trotz seines weißen Haares eine physische Energie ausstrahlte, die seine ganze Umgebung magnetisierte, vergleichbar mit der Gegenwart eines berühmten Schauspielers, der sich der Bühne bemächtigt und alle anderen auslöscht. Sobald Kayser eingetreten war, vergaß Carvalho den anderen Polizisten. Er nahm nicht einmal wahr, daß dieser weiterhin anwesend blieb. Der Polizist saß in einer Ecke und verfolgte als Zuschauer in der ersten Reihe die falschen Herzlichkeiten, die Carvalho und Kayser austauschten.
»Ich hätte Ihnen nicht verziehen, wenn Sie abgereist wären, ohne mich besucht zu haben, und sei es auch nur in Erinnerung an alte Zeiten. Wie mir Inspektor Israel erzählte, arbeiten Sie nicht mehr für die Amerikaner. Sie sind selbständig. Bringt es denn etwas ein?«
»Jeder Spanier hegt die heimliche Hoffnung, sich eines Tages selbständig zu machen. Sagen wir, es ist eine Arbeit nach meinem Geschmack, und außer dem Klienten trägt keiner die Verantwortung.«
»Auf diese Weise lassen Sie Ihre ganze Begabung brachliegen! Ich habe mir die Sache reiflich überlegt, Freund Carvalho, und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß Sie uns hier, in Amsterdam, einen sehr wertvollen Dienst erweisen könnten. Sie genießen bei uns immer noch einen sehr guten Ruf, und eine Menge unserer Jungs haben von Ihnen das ABC ihres Berufs gelernt.«
»Das freut mich.«
»Jetzt würde es nicht um dieselbe Arbeit gehen. Wissen Sie, wie viele Spanier hier in Holland arbeiten? Über zwanzigtausend. Wir sind bemüht, ihnen den Aufenthalt bei uns zu erleichtern, aber leider sind wir dazu nicht immer in der Lage. Sie haben eine seltsame Mentalität, mit der wir nicht genügend vertraut sind. Sie könnten eine Abteilung aufbauen, ganz offiziell natürlich, deren Aufgabe die wohlwollende Überwachung Ihrer Landsleute wäre. Eine beschützende Überwachung. Nicht alle schaffen den Sprung aus einem überbeschützenden Staat wie dem Ihren in ein permissives Land wie das unsere, Señor Carvalho. Wir haben hier eine permissive Gesellschaft, wie es die Soziologen heute ausdrücken. Haben Sie die Soziologie endgültig an den Nagel gehängt?«
»Ich lebe von ihr.«
»Ist das eine Metapher?«
»Möglicherweise. Was meinen Sie?«
»Es ist eine Metapher. Eine sehr gelungene. Ist denn ein Polizist wie ich etwa kein Soziologe?«
Kayser erntete die
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