Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
Zustimmung von Inspektor Israel, der aus dem Hintergrund der Szene aufgetaucht war, um seinen Satz im Rampenlicht aufzusagen. »Stimmt haargenau. Soziologe und Psychologe.«
»Sehen Sie? Eine permissive Gesellschaft wie unsere kann bei Ihren Landsleuten eine innere Verunsicherung hervorrufen. Sex und Politik sind plötzlich in ihre Reichweite gerückt.«
»Sex ist für jeden Immigranten zu teuer.«
»Vielleicht gerade deshalb. Sie haben den Sex in Reichweite, können ihn aber nicht immer bekommen. Das führt zu beklagenswerten Frustrationen, die aufzulösen unglücklicherweise nicht im Bereich unserer Möglichkeiten liegt. Nun gut, aber da ist auch die politische Frage. Sie wissen ja, in Holland herrscht weitestgehende Toleranz gegenüber jeglicher Aktivität, solange sie keine verfassungsfeindlichen Wege beschreitet; wir haben sogar Trotzkisten, Señor Carvalho! Aber ein holländischer Trotzkist besitzt immerhin den unbezweifelbaren Vorteil, von Geburt an Holländer zu sein. Er ist in erster Linie Holländer, und sein Verhalten als Trotzkist überschreitet nicht die Grenzen des Erlaubten. Aber können Sie sich einen spanischen Trotzkisten, Anarchisten oder, kurz und gut, einen Kommunisten in Holland vorstellen? Können Sie sich vorstellen, wie er unter seinen politisch gesehen ausgehungerten Landsleuten Anhänger wirbt? Einen politisch aktiven Spanier, Türken oder Griechen müssen wir viel genauer überwachen als hundert Holländer. Sie könnten eine faszinierende Aufgabe übernehmen: zunächst eine Klassifikation der Ideologien und Aktivitäten, dann deren Quantifizierung. Auf diese Weise würden wir ein exaktes Wissen über die ideologische Entwicklung Ihrer Landsleute bekommen, und davon ausgehend könnte man ihre Aktivität kanalisieren und verhindern, daß sie sich selbst schaden bei dem Versuch, in einem so wenig rezeptiven Kontext aktiv zu werden.«
Carvalho nahm automatisch den neuen Zigarillo an, den ihm Israel von hinten reichte. Kayser sprach weiter, aber Carvalho war geistig blockiert und dachte an andere Dinge, verfolgt von Erinnerungen und Vorstellungen zu dem Thema, das Kayser ansprach. Er bemerkte, daß der Inspektor zu reden aufgehört hatte und mit wohlwollendem Lächeln auf seine Antwort wartete.
»Nein. Daran bin ich nicht interessiert. Meine handwerkliche Arbeit ist mir lieber. Man beauftragt mich mit der Suche nach einer Ehebrecherin oder nach einem verschwundenen Verwandten. Oder ich soll Veruntreuungen von Geschäftspartnern nachweisen. Eine ruhige Arbeit. Ich wechsle nicht zu so großen, wichtigen und bedeutungsvollen Dingen wie Ideen, Politik und dergleichen. Das kann entweder in einem soliden technologischen Geist geschehen oder indem man einen festen ideologischen Standort bezieht. Ich selbst besitze mittlerweile weder das eine noch das andere. Ich arbeite genug, um davon leben zu können. Die technologische Weiterentwicklung unseres Berufes interessiert mich nicht. Darüber lese ich nicht einmal Bücher. Ich habe mich sehr verändert. Und was den zweiten Punkt betrifft, so kümmern mich Trotzkismus, Anarchismus und Kommunismus einen Scheißdreck, genauso die permissive Gesellschaft. Ich bin nicht einmal neutral, ich bin keimfrei.«
»Sie machen einen großen Fehler. Wir versuchen nicht, die neugewonnene Freiheit Ihrer Landsleute abzuwürgen. Wir wollen sie lediglich kanalisieren.«
»Würgen Sie ab, oder kanalisieren Sie, aber ohne mich. Ich habe die CIA verlassen, als ich dort eine glänzende Zukunft hatte. Ich hatte schon drei Triennien angehäuft, und ein wichtiger Posten in Kolumbien sollte bald frei werden, ein sehr wichtiger. Aber ich sagte nein und ging. Ich hatte auf großem Fuß gelebt und nichts auf die hohe Kante gelegt. Jetzt will ich ein wenig sparen, weil ich schon auf die Vierzig zugehe und man an sein Alter denken muß.«
Kayser lachte mit einer beinahe gelungenen Aufrichtigkeit.
»Sie machen wirklich einen großen Fehler. Irgend jemand muß diese Aufgabe übernehmen, und nur wenige Leute besitzen Ihr Geschick und Ihre Erfahrung. Sie kennen den Unterschied zwischen einem einfachen Polizisten und einem, der Theorie und Praxis verbinden kann. Das ist ein Profi der Spitzenklasse, ein Humanist! Die Pragmatiker dagegen, Sie wissen ja, was das für Leute sind. Ist es Ihnen lieber, wenn Ihre Landsleute denen in die Hände fallen?«
»Ich habe keine Landsleute. Ich habe nicht einmal eine Katze.«
Kayser lachte wieder. Er hatte sich erhoben. Israel ebenfalls. Carvalho
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