Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
stand, bemerkte er plötzlich mit Schrecken über dem Strand das erleuchtete Fenster des Zimmers, in dem er die Stimmen der Familie gehört hatte. Er meinte sogar, eine Gestalt am Fenster stehen zu sehen. Sofort warf er sich flach auf den Boden des Bootes. Mit einer Langsamkeit von Jahrhunderten hob er den Kopf. Niemand war zu sehen.
Jetzt sprang er auf den Sandstrand und kehrte in die Halle zurück. Er betastete die Gegenstände. Es roch nach Meer und Fisch. Dann öffnete er die Heckklappe des Lieferwagens und stieg hinein. Der Fischgeruch nahm zu. Er schaute in die Blechbehälter, die dort gestapelt waren, und sah, daß sie verpackten tiefgefrorenen Fisch enthielten. Nachdem er die Behälter überprüft hatte, stieg er nach vorn in die Fahrerkabine und öffnete das Handschuhfach. Es enthielt einen Block mit Formularen, schmutzige Lappen und eine Sonnenbrille. Auf einer Visitenkarte stand eine Adresse, die zu diesem Ort gehören mußte, und der Name, der neben dem Wort
Schiffsbau
auf dem alten Schild stand. Jetzt hörte er vielfältige Geräusche auf der Treppe. Er kletterte nach hinten in den Laderaum und sah durch das Heckfenster zu, wie eine ganze Familie vorbeimarschierte, beladen mit Tellern, Töpfen, Stühlen und einem Klapptisch. Ein altes Ehepaar, zwei junge Männer, La Gorda und eine alte Frau in Trauerkleidung ließen sich im Hof nieder und improvisierten ein Abendessen unter freiem Himmel.
»Was gibt ’s zum Abendbrot, Mutter?«
»
Cascaburras
.«
»Oh je!«
»Deinem Vater schmeckt es, und er sagt jeden Tag zu mir, daß ich
cascaburras
machen soll. Ich kann ja wohl nicht für jeden extra kochen!«
Die Frau sprach mit murcianischem Akzent, sie verschluckte die Endungen.
»Du magst also keine
cascaburras
! Früher haben sie dir immer gut geschmeckt!«
Das war der Vater. Carvalho überlegte, was zum Teufel das sein könnte,
Cascaburras
. Aus der Entfernung konnte er nur eine rötliche Masse erkennen, die sich in einer glasierten Tonschüssel befand. Ganz in kulinarische Überlegungen vertieft, vergaß er, daß er das Gebäude jetzt nicht mehr verlassen konnte, und als er das Bedürfnis danach verspürte, kam er zu der überraschenden und unabweisbaren Erkenntnis, daß er ein Gefangener war. Der Fischgeruch ging ihm auf die Nerven. Lieber ging er zu dem kleinen Strand hinaus. Dort könnte er über den nächsten Zaun klettern, wieder ein Stück Strand überqueren, über den nächsten Zaun steigen und auf diese Weise irgendwann die Lichter erreichen, die zu einer bewohnten Gegend gehören mußten. Aber er riskierte damit möglicherweise, den Rückweg zu seinem Auto nicht wiederzufinden. Lieber wollte er warten, bis sie fertig gegessen hatten und ihm den Weg freigaben.
Er legte sich in den Sand, eng an das Boot mit dem Außenbordmotor gedrückt. Aus dieser Perspektive wirkte das Boot viel größer, und unerwartet sah er das Bild vor sich, wie das Boot die Wellen durchpflügte. Plötzlich flog etwas über Bord. Ein menschlicher Körper. Als der Körper auf ihn zuflog, sah er sein zerfressenes Gesicht. Das Gewicht der visionsartigen Enthüllung erdrückte ihn beinahe. Badalona war nicht weit von Vilasar und Caldetas. Von diesem kleinen Strand aus war es ganz leicht, mit jeder beliebigen Ladung unbemerkt aufs Meer hinauszufahren. Chesmas Körper konnte ohne weiteres von dem Motorboot, dessen polierte Oberfläche über ihm glänzte, ins Wasser geworfen worden sein.
Die Tür der Lagerhalle ging auf, und ein Mann mit einer Zigarette im Mund kam heraus. Langsam ging er über den Sand, zwischen dem alten Fischerboot und dem Motorboot hindurch, bis zur Wasserlinie, wo der nächtliche Schaum der gestrandeten Wellen gluckste. Er blieb stehen und schaute aufs Meer hinaus, als wollte er seine ungeschützte Netzhaut imprägnieren. Seine Hände bewegten sich zur Körpermitte, er stellte sich breitbeinig hin, und Carvalho sah, wie der Harnstrahl herabfloß, vom leichten Geplätscher der Wellen übertönt. Er machte eine Bewegung, um die Tätigkeit zu beenden, und schloß sein Werkzeug wieder in seiner Zelle ein. Jeden Moment mußte er sich umdrehen und unweigerlich Carvalho entdecken, so sehr er sich auch an den Bootsrumpf preßte. Als der Mann zur Drehung ansetzte, glitt Carvalho über den Rand des Bootes ins Innere und drückte sich dort platt auf den Boden. Mit einer Hand tastete er in der Achselhöhle nach der geriffelten Oberfläche seines Pistolengriffs. Seine Fingerspitzen glitten über das rauhe Metall. Die
Weitere Kostenlose Bücher