Per Anhalter (German Edition)
und er hatte dauernd irgendetwas. Annikas Mutter verbrachte –zumindest gefühlt – mehr Zeit mit dem Baby im Krankenhaus als Zuhause. „Muss er wieder ins Krankenhaus?“,
„Keine Ahnung.“,
„Oh Mann, der arme Wurm.“,
„M-hm. Wann soll ich dich denn anrufen?“,
„Keine Ahnung… So um fünf vielleicht.“,
„Ja. Okay. Und was soll das bringen?“,
„Ich weiß ja nicht, wo ich mit ihm hingehe. Nur zur Sicherheit.“,
„Scheiße ey, du bist echt leichtsinnig, Maus, ohne Witz. Aber vielleicht ist er ja wirklich ganz nett, kann ja alles sein.“,
„Das ist doch so und so meine Sache, Süße.“,
„Ich weiß… aber ich hab echt Schiss bei sowas. Überleg mal was heutzutage alles passiert. Und du hast dem auch noch deine Adresse gegeben. Das ist nicht sehr schlau von dir!“,
„Ja, toll, kann sein, aber ich kanns doch jetzt eh nicht mehr ändern. Außerdem freu ich mich auch drauf.“,
„Na Hauptsache ihr nehmt Kondome.“,
„Hallooo!“ gackerte Lena. Doch Annika gackerte nicht. Es war ihr voller Ernst. Sie war ein bisschen wie die eiserne Lady, Margret Thatcher, unbeirrbar streng und stur in ihren Ansichten. Manchmal fragte sich Lena, ob Annika überhaupt schon jemals in ihrem Leben etwas außer der Reihe riskiert hatte, ob sie überhaupt wusste, was ihr an Spaß entging… Sie trank nie etwas Alkoholisches, noch nicht einmal – wie alle anderen – ein Bierchen oder zwei auf dem Jahrmarkt, wenn sie Freunde dabei hatten die schon 16 waren und welche besorgen konnten.
Sie hatte noch nie an einer Zigarette gezogen und erst ein einziges Mal mit einem Jungen rumgemacht, und das war auf der Klassenfahrt nach Bad Malente. Ansonsten war sie wirklich ein extrem biederer Moralapostel der immer irgendetwas besser wusste. Und doch liebte Lena Annika. Sie kannten einander schon seit dem Kindergarten und waren quasi miteinander groß geworden. Manchmal beneidete sie Annika sogar für ihre eiserne Disziplin. Ebenso wie für ihren Wortschatz. Annika konnte Aufsätze und Gedichte verfassen, wo alle anderen nur stumpfsinniges Gekrakel zustande brachten. Gut, vielleicht war sie auch einfach eine Streberin, doch daran, dass sie ein ungeheures Schreibtalent hatte, gab es keinen Zweifel. Und dann stand sie immer hinter dem Pult, schaute über den Rand ihrer Brille und hielt Referate. Für ihr Leben gern. Und sie hatte Dinge geschrieben, die das der anderen um Längen übertrumpfte. Keiner in der Klasse, vielleicht sogar keiner auf der ganzen Schule, konnte so brillant Worte finden wie Annika. „Ich ruf dich an. Wenn´s etwas nach fünf wird, dann sind wir noch unterwegs, aber ich versuch das zu schaffen und werde auf jeden Fall dran denken, Maus.“,
„Danke Maus! Süß von dir.“,
„Pass auf dich auf, ja?“,
„Jaa Mamaa!“,
„Ich meine es Ernst, Süße. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache.“,
„Er kommt trotzdem !“,
„Ich weiß!“,
„Ja!“,
„Ja! Bis später, okay?“,
„Okay! Danke dir. Hab dich lieb!“ – Wieder eine Pause. Dann sagte Annika schließlich:
„Ich dich auch!“ und legte auf. Irgendwie musste man sie toll finden und sie für ihre Art, Erwachsen zu sein , beneiden. Andersherum musste man sich von Zeit zu Zeit aber auch an den Kopf fassen, wenn man sich ihre 15-jährigen Weltansichten auf der Zunge zergehen ließ. Wieder einmal trottete sie auf den Spiegel zu, der in ihrem Zimmer hing.
15 Jahre war sie alt und sie stand mitten auf der Schwelle. Sie traf sich mit einem Jungen. Daran, dass sie mit ihm schlafen würde bestand kein Zweifel. Ebenso wenig wie ein Zweifel daran bestand, dass die Diddl-Maus, die als Window-Color auf dem Spiegel klebte, ihnen dabei zusehen würde. Sie wollte als Erwachsene wahrgenommen werden, nicht mehr als Kind, und doch war ihr Bett voll mit diversen Kuscheltieren. Einer Schlange, einem Marsupilami, einer männlichen und einer weiblichen Variante von Diddl sowie „Knautschi“, ihr Steiff-Lämmchen, das sie von Oma und Opa zur Geburt geschenkt bekommen hatte. In ihrem Nachtschrank lagen drei Packungen Kondome (zwei Mal mit Erdbeergeschmack, einmal genoppt und geschmacksneutral) und gleichzeitig malte sie seitenweise die fünf Buchstaben HDGDL in den verschiedensten Farben aus, verschenkte sie an Freundinnen oder verunstaltete ihre Wände damit, an denen außerdem Poster hingen, jede Woche neue, zumindest wenn die Bravo Poster von süßen Typen aus angesagten Bands drin hatte. Es war kein einfaches Alter. Ein Teil suchte und
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