Per Anhalter (German Edition)
benötigte noch den Schutz und die Geborgenheit des Elternhauses, ein anderer sehnte sich unentwegt und mit extremem Nachdruck nach Freiheit ohne Grenzen.
***
Unterdessen wachte rund 60 Kilometer weiter südlich, in Rendsburg, Davids Schwester Nadja auf. Sie war zur Zeit eine echte Langschläferin. Ihr Bett war ebenfalls voll mit Kuscheltieren (die Palette reichte von Spongebob-Schwammkopf über Bart Simpson und erstreckte sich über sämtliche zu Stoff verarbeitete Bauernhoftiere). Unter Mädchen waren Kuscheltiere irgendwie in jedem Alter ein legitimer Bettbegleiter. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in die Küche, wo sie sich die Packung mit nachgemachten Cini Minis aus dem Regal und die Milch aus dem Kühlschrank holte. Den Zettel, der auf dem Küchentisch lag, hatte sie bereits beim Betreten der Küche gesehen.
Sie war davon ausgegangen, dass Mama ihn geschrieben hatte. Das machte sie manchmal. Meistens standen Dinge darauf, bis wie lange sie arbeiten musste, dass David oder sie bitte abwaschen sollten ( wegräumen mache ich nachher) , den Müll rausbringen oder daran denken mögen, den Kater (Carlo) der Nachbarin zu füttern, wenn diese wieder mal im Urlaub war. Manchmal, wenn sie richtig gute Laune hatte, schrieb sie auch einfach nur, dass sie ihnen einen schönen Tag wünschte und sie sich darauf freute, den Nachmittag mit ihnen zu verbringen. Genau mit so etwas rechnete Nadja auch heute, doch als sie sich setzte und den Zettel zu sich herüber zog, erkannte sie, dass die Schrift nicht die ihrer Mutter war. Es war ein entsetzliches Gekritzel. Mama aber hatte eine sehr saubere und schön geschwungene Handschrift.
Diesen Zettel hier hatte David hinterlassen.
Bin bei Lena!!! mfg David stand darauf. Nicht mehr und nicht weniger. Nadja hatte den Streit vom Vorabend mitbekommen und war demzufolge überrascht, dass David tatsächlich zu Lena gefahren war.
Wie denn wenn Mama dir das Ticket nicht bezahlt?
Sie hatte den Namen Lena echt satt. Jedes zweite Wort aus dem Mund ihres Bruders war Lena . Sie wähnte bereits großen Ärger auf ihren Bruder zukommen, den sie abgöttisch liebte. David war seit jeher ihr Ein- und Alles und der Mensch, zu dem sie stets aufschaute, weil sie ihn rundum großartig fand. Doch auch sie spürte unweigerlich, dass ihr großer Bruder in letzter Zeit ein wenig unzugänglich geworden war. Er machte den Eindruck, als ob er mit sich und der Welt unzufrieden sei, denn er hatte ständig Stress mit Mama, dann die Geschichte mit dem Ausbildungsplatz und, und, und.
David hatte sich verändert.
Und alles drehte sich nur noch um Lena.
Kapitel 3
„Was willst du eigentlich in Flensburg?“ Was war das denn jetzt? Jemand redete – BRITTA redete. Und zwar mit ihm.
Das kam so überraschend, dass David erst einmal aus einer Art Standby-Modus aufwachen musste. Er stammelte und verhaspelte sich, und wieder hatte er Mühe, einen dicken Batzen angesammelten Speichels runter zu schlucken. „Wa?“ fragte er und sie schaute zu ihm herüber.
„Was du in Flensburg vor hast?“ fragte sie. Er hatte die Frage schon gleich beim ersten Mal verstanden, doch er war auf jegliches Gespräch so unvorbereitet, als hätte er neben einer Toten Wache gehalten, die plötzlich zu reden angefangen hatte.
„Ach so, äh, ich will da jemanden besuchen.“
Zum ersten Mal schaute David der Frau richtig in die Augen. Und er sah sofort wieder weg, denn er hatte das Gefühl, sie fräße ihn mit ihrem starren Blick förmlich auf. „Und wen besuchst du da? Familie?“ Britta sprach akzentfrei, aber ihre Stimme war krächzend und belegt, als rauschten tagtäglich zwei Schachteln Prince Denmark durch ihre Lungen. Der belegte Klang ließ sie alt und verbraucht wirken.
Obwohl es der Frau komplett egal sein konnte, ob er nun einen Mann oder eine Frau in Flensburg besuchen wollte, entschied sich David für eine falsche Version. „Einen Kumpel besuch ich da!“ meinte er lapidar. Er spürte an ihrem Blick, dass sie ihn durchschaut hatte und er fing an noch stärker zu schwitzen. Von hinten drangen noch immer die nostalgischen Gameboytöne an seine Ohren. Er fühlte sich grässlich deplatziert. Britta fuhr stur weiter geradeaus. Das Thema schien für sie abgehakt zu sein. Dabei war es doch gut, dass sie überhaupt redete. Genau genommen war alles gut, solange nur diese furchtbare Monotonie der Motorengeräusche unterbrochen wurde. „Und ihr wohnt in Flensburg?“ brach es aus ihm heraus.
„In
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