Per Anhalter (German Edition)
sowieso meistens draußen (und die nächsten 14 Tage sogar bei Oma und Opa in Dänemark!). Ihr Vater kam in der Regel zwischen 17 und 18 Uhr nach Hause. Bis dahin hatte sie sämtliche Spuren längst verwischt. Jetzt war ein Moment, in dem sie sich ein bisschen hin und hergeworfen fühlte. Einerseits war sie froh, nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter in allzu festgezurrten Ketten zu leben. Kim-Lara, eine Klassenkameradin von ihr, hatte sich beispielsweise schon eher mal mit Leuten aus Internetchats getroffen. Seitdem dies heraus gekommen war, hatten ihre Eltern ihr jegliche Internetnutzung, die nicht schulisch begründet war, strikt untersagt. Kam ihr dies noch vor kurzem wie die Höchststrafe vor, dachte sie nun, dass die Eltern vielleicht auch Recht hatten. Was hätte alles bei so einem Date passieren können? Was konnte heute alles passieren, wenn sie sich mit David traf?
Ihre beste Freundin Annika war eine harsche Gegnerin ihrer Beziehung zu David. Sie hielt davon überhaupt nichts und nutzte beinahe jede Gelegenheit, ihr diesen Jungen auszutreiben. Sie hätte von Fällen gelesen, wo Mädchen sich mit vermeintlich gleichgesinnten und gleichaltrigen Leuten trafen, und in der Realität Scheusale vorfanden.
Stell dir mal vor, David ist in Wirklichkeit Karl-Heinz-Otto und ist schon Anfang/Mitte 30, und er sagt dir das erst bei eurem Treffen. „Ja, aber die Bilder?“ hatte sie gesagt. Könnten gefaket sein , meinte Annika. „Hab ihn aber auch vor der Cam gehabt!“ entgegnete sie dann triumphierend und Annika musste aufgeben. Alles, was ihr dann noch einfiel war, trotzdem, Maus. Natürlich kann er süß und nett sein, aber du kennst ihn doch gar nicht wirklich. Vielleicht ist er total der Freak oder so und will am Ende auch nur das Eine von dir. Was dann?
Gute Frage,eigentlich. Was dann?
Sie dachte an diesem Vormittag viel an die Worte ihrer Freundin, und das ansonsten so abwegig alberne Szenario erschien ihr mit einem Mal bedrohlich echt .
Vielleicht sollte sie sie mal anrufen und ihr zumindest sagen, dass David sie heute besuchen kommen wollte. Im Falle eines Falles wüsste sie dann Bescheid. Wie immer der Fall eines Falles auch aussah. Im Falle einer Entführung zum Beispiel? Einer Vergewaltigung? Im Falle dessen, dass er ihr Schmerzen zufügte und sie irgendwo in irgendeinem dunklen Keller misshandelte? Aber David doch nicht… grübelte sie. Und tatsächlich glaubte sie auch nicht ernsthaft an so etwas. Trotzdem – Genau wie in puncto Browserverlauf musste auch hier die Devise „sicher ist sicher“ gelten und sie rief Annika an. Offensichtlich hatte sie sie geweckt, denn sie klang ziemlich verschlafen als sie ranging.
„Ja?“,
„Hi Maus, ich bin es.“,
„Hi!“, dann gab es einen unwirklichen Augenblick der Stille, in dem niemand etwas sagte. Annika war zu müde um eine Frage zu stellen, und Lena zu nervös, als dass sie einen Ansatz zur Erklärung fand, weshalb sie bei ihr anrief.
„Hab ich dich geweckt?“ fragte Lena.
„Ne, passt schon. Frühstücke gerade.“
„M-hm!“,
„Was gibt’s, Maus? Du hast was auf dem Herzen, oder?“,
„Wieso?“,
„Das höre ich.“,
„Aha!“,
„Also?“. Lena lachte verlegen. „Also gut, ja. Ich treff mich heute.“
Nach diesem Satz vergingen wieder einige Sekunden ohne ein Wort.
„Wie, du triffst dich? Mit wem denn?“,
„Hallo? Mit wem wohl?“,
„Boah, nee, nä? Das ist jetzt nicht dein Ernst, Maus.“,
„Doch“ sagte sie in einem Ton der Rechtfertigung.
„Ey, ich hätt das echt nicht gemacht, Maus. Ich gönn dir das zwar aber… aber trotzdem. Ich hab einfach Angst um dich.“,
„Ja, weiß ich Süße. Aber… Na ja, er kommt jedenfalls.“,
„Und wissen das deine Eltern?“,
„Ja. Sie wissen dass er kommt.“,
„Gut.“ – dieses Wort kam hämisch, fast schon missgünstig über Annikas Lippen.,
„Warum?“,
„Ich mein nur.“,
„Aber die wissen ja jetzt auch das… Na ja, dass ich ihn vom Chat kenne. Wollt dich eigentlich nur fragen, ob du mich nachher mal anrufen kannst?“,
„Anrufen? Wieso?“,
„Na, zur Sicherheit!“,
„Ach?! Jetzt plötzlich oder was?“ Das hatte gesessen. Es war ihr unangenehm.
„Ich hab keine Ahnung, soll heute Nachmittag mit meiner Mutter noch zum Einkaufen. Und zum Arzt sollen wir auch noch mit Lenni. Er hat Verdacht auf Leistenbruch.“,
„Oooh, Shit!“ – Lena hatte nicht den blassesten Schimmer was ein Leistenbruch war. Aber Lenni war erst knapp über ein Jahr alt
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