Per Anhalter (German Edition)
Normalerweise schmunzelte sie an dieser Stelle immer bei der Erinnerung, doch jetzt kamen ihr die Tränen. Damals war ihr Leben noch so anders… so unbeschwert und rein… sie hatte so viele Träume und genaue Vorstellungen davon, wie ihr Leben verlaufen musste. Sie wollte ein Haus haben, irgendwo auf dem Land. Und einen Mann an ihrer Seite, mit dem sie Kinder in die Welt setzte, mit dem sie die Welt bereiste und mit dem sie einfach bis an ihr Lebensende glücklich war. Es brauchte nicht einmal ein Typ zu sein wie Freddy. Ein normaler Mann, das war schon in Ordnung, auch wenn sie damals ihre ganz eigenen Vorstellungen hatte, die sie im Laufe der Zeit immer wieder runter schrauben und korrigieren musste. Ein ganz einfacher Mann, das hätte ihr schon gereicht. Ein verlässlicher Partner, in guten wie in schlechten Zeiten. Und stattdessen stand sie hier... Allein. Niemand nahm sie in den Arm. Ihr Leben war ein Scherbenhaufen und sie hatte nie wirklich gelebt. Sie existierte, ja, aber bedeutete das leben ? Ihr Dasein war nichts als eine stetige Suche nach sich selbst und einer dauernden, aussichtslosen Jagd auf ein Stück vom großen Kuchen mit dem Namen Glück gewesen. Doch sie war immer zwei Schritte zu langsam und hatte dabei vergessen, nach links und rechts zu schauen. Jetzt war sie in einen dunklen Tunnel geraten, dessen Eingang verschüttet worden war und dessen Ende sie noch nicht einmal erahnen konnte. Darin war es so finster, dass sie bei jedem Geräusch zusammen zuckte. In ihm hausten Monster, die sie als hysterische Versagerin betrachteten und genau wussten, wann sie zupacken mussten. Hätte ich mich bloß intensiver um David gekümmert. Die ganzen letzten Jahre... Vielleicht hätte er gut etwas Unterstützung gebrauchen können. Vielleicht hätte ich ihn bestärken sollen, Architekt zu werden, anstatt ihm das Rückgrat zu brechen indem ich sagte, er würde es sowieso nicht schaffen. Er hatte nie einen richtigen Vater. Und verdammt soll ich sein… er hatte in den letzten Jahren auch keine richtige Mutter. Er hatte nur mich… ein Bündel voller Sorgen, das selbst nicht genau wusste und bis heute nicht weiß, was es eigentlich will. Und ich habe ihn einfach links liegen lassen, meinen armen Jungen… Meinen armen, armen Jungen… Die Tränen drückten mit enormer Macht, so dass ihre Augen brannten und sie schluchzte. Aber sie flossen nicht aus den Augen heraus sondern blieben darin stehen, als ob sie sie noch zusätzlich ein bisschen ärgern wollten. Nur so zum Spaß, weil sie es eben verdient hatte.
Sie kniff die Augen zusammen.
In der Wohnung, in der Freddy einst lebte (und in der sie ihn nie oben ohne am Fenster stehen sehen hatte) war es dunkel. Aus erstaunlich vielen anderen Wohnungen jedoch, schimmerte zu dieser späten Stunde noch bläuliches Flackern von Fernsehgeräten oder es war noch Licht eingeschaltet. Sie fixierte eines der Fenster, kniff die Augen zusammen und das Licht spiegelte sich wie ein Prisma in ihren Tränen. So stand sie ungefähr zehn Minuten da, starrte in die Nacht hinaus und bedauerte sich selbst. Sie hatte David nie eine reelle Chance gegeben, sich frei zu entfalten. Sie selbst war ständig unzufrieden, brachte immer neue Männer mit nach Hause. Dauernd krebste sie mit dem Geld herum, und es war beim besten Willen nicht möglich, es vor ihm zu verbergen. Zuweilen bemühte sie sich nicht einmal mehr darum, so dass er ihre Sorgen und Nöte brühwarm mitbekam, wodurch seine Kindheit ganz sicher einen massiven Einbruch an Unbeschwertheit erfahren hatte. Wie oft war er nach Hause gekommen, und hatte sie weinend in der Küche vorgefunden. Das eine Mal würde sie nie vergessen, als die Kindergeldkasse irgendwas durcheinander brachte und sie kein Geld bekam. Das Wochenende lag vor ihnen und die Dame am Telefon hatte aufrichtiges Bedauern geäußert, jedoch auch mit Nachdruck erklärt, es gäbe vor Anfang kommender Woche kein Geld. Sie war regelrecht durchgedreht, hatte sich eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank geholt und sie mitten am Tag getrunken. Als David von der Schule kam, fand er sie betrunken und in Tränen aufgelöst auf dem Sofa. Und ich hab mich noch nicht einmal dafür geschämt , dachte sie mit Unbehagen. Und sie ging sogar noch weiter – Ich habe David und Nadja immer für selbstverständlich erachtet. Sie waren da und damit war es gut. Ich habe keinem von beiden je ernsthaft bei den Hausaufgaben geholfen… Oder mal gefragt, ob sie vielleicht Probleme in der Schule
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