Per Anhalter (German Edition)
wie Staub durch einen Besen, in einer Garage die seit Jahren kein Mensch mehr betreten hatte. Da war die Klassenfahrt in den Harz, als er sich tonnenweise Erdnusslocken rein pfiff und den Bus vollkotzte. Da war der Wald, in dem sie im Kindergarten und der Vorschule so oft waren, und wo Tante Sabine alle Jubeljahr mal das große Stockbrotessen veranstaltete, was immer wieder ein Highlight für alle Kinder war. Da war die Einschulung, die Tränen nach irgendeinem schlimmen Sturz beim ersten Fußballspiel in der Schule… Da war ein grauer, wolkenverhangener Nachmittag, an dem er mit seiner Mutter und seiner Schwester einfach nur auf dem Bett lag und sich irgendwelche Sitcoms im Fernsehen ansah und sich dabei unfassbar geborgen fühlte… Und dann war auf einmal nur noch Lasse da. Und das beißende Stechen in seinem Rücken, das sich zu einem grellgelben Blitz verwandelte, zu einer Woge des entsetzlichsten Schmerzes, den er je empfunden hatte.
Lasse saß auf ihm.
Blut und Schweiß tropften von seinem Gesicht, das immer mehr zu einer unwirklichen Fratze verschwamm, wie man sie im Zerrspiegel auf dem Jahrmarkt sieht.
Er konnte das Blut schmecken. Es floss direkt von Lasses Nase in seinen Mund. Lasse sagte irgendetwas. Oder nein – er schrie irgendetwas. Doch er konnte nicht genau verstehen was es war. Seine Nase war wirklich platt! Im Prinzip existierte sie nur noch als klobiger Blutsklumpen. Sein ganzes Gesicht war bis zu den Haaren hinauf rot eingefärbt.
Er konnte die Klinge an seinem Hals spüren. Und nun hörte er Fetzen von dem, was Lasse sagte, doch sein Gehirn verwarf alles zugunsten des Schmerzes in seinem Rücken. Die Messerspitze war nun nicht mehr an seinem Hals, sondern Lasse hielt sie ihm direkt unter die Augen. Sie war voller Blut. Überhaupt schien alles voller Blut zu sein. Die Umrisse von Lasse wurden schwammig. Der grelle, schemenhaft gelbe Blitz zehrte sie auf wie ein gefräßiger Schlund. Reales und surreales waren ein- und dasselbe – belanglos! Nichts war mehr wirklich, außer der Schmerz. Aus der Ferne hörte er ein Wimmern. Vielleicht sein eigenes, vielleicht auch nicht. Lasse war aufgezehrt, verschwunden… Jetzt war alles gelb… Dann rot… Und schließlich zehrte das Ungetüm auch ihn selbst auf. Die Lichter gingen aus.
Kapitel 14
An Schlaf war gar nicht zu denken. Mareike Gimm wälzte sich unruhig hin und her. Von einer Seite auf die andere. Ihre Gedanken waren ein reißender Fluss, und ihre schlimmsten Befürchtungen zu bitterer Realität geworden. Gegen 21 Uhr war sie von der Polizei per Handy darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass alles dafür sprach, dass David per Anhalter gefahren sei um nach Flensburg zu kommen.
Der Abend, der zunächst mit so viel Geborgenheitsgefühl begonnen hatte, war gelaufen!
Man versprach ihr, alle Hebel in Bewegung zu setzen um David zu finden. Der Mann am Telefon rückte ansonsten keine einzige Information heraus. Man werde sich gleich morgen früh persönlich mit ihr in Verbindung setzen und alle Einzelheiten auf Grundlage des Ermittlungsstandes mit ihr besprechen, und gegebenenfalls noch Informationen von ihr brauchen. Aufgrund des großen polizeilichen Aufgebots, sei er jedoch voller Hoffnung, ihr ihren Sohn schon sehr bald wieder unversehrt nach Hause bringen zu können. Sie glaubte ihm kein Wort. Der Kerl wurde fürs Belabern der Bevölkerung bezahlt, hatte irgendeine Psycho-Grundausbildung absolviert und in Wahrheit keinen Funken Ahnung. Er selbst hatte gewiss noch nie jemanden nach Hause gebracht. Der Blödmann konnte nichts außer dumm rum labern.
Ihr Vater sah das natürlich wieder komplett anders.
Von der morgendlichen Milde und Harmonie, sowie dem wieder erwachten Gefühlsreichtum war nichts mehr übrig. Er bezeichnete sie als „labil“ und „viel zu aufgebracht“. Außerdem sei David doch selbst Schuld. Was fuhr er auch per Anhalter?
In der Tat machte sie diese Tatsache auch ziemlich wütend. Wie konnte er das bloß tun? Und doch dachte sie wieder - merkt mein Vater eigentlich noch was? Sie zweifelte stark daran.
Es war schlicht und ergreifend ein Unding , einer Mutter, die zudem noch die eigene Tochter war, dafür zu kritisieren, dass sie sich um ihren verlorenen Sohn sorgte… Oder den verlorenen Sohn zu kritisieren. Das war fast noch schlimmer!
Sie hatte sich neben Nadja ins Bett gelegt. Ihr armes kleines Mädchen war fix und fertig und hatte nur geweint, geweint, geweint. Sie merkte natürlich auch, wie
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