Per Anhalter (German Edition)
die Dunkelheit. Wer oder was auch immer dort stöhnte (es konnte sich genauso gut um einen beknackten Igel handeln. Die Viecher machten seines Wissens nach auch immer eigenartige Geräusche, die sich wie Stöhnen anhörten), er war nicht gerade scharf darauf, es zu sehen oder damit in Berührung zu kommen.
Am liebsten wollte er es nicht einmal mehr hören, doch dagegen konnte er nichts tun. Außer sich vielleicht die Ohren zuzuhalten.
Das Stöhnen wuchs zu einem Röcheln heran und dann zu etwas, dass wie ein Weinen klang.
„Verdammte Kacke, wer ist da ?“ Lolle bewältigte die erste und die zweite Treppenstufe. Sie waren nach hinten hin, sprich unter die Veranda, offen, und der wahnhafte Gedanke, dass sich gleich eine Hand um seinen Knöchel schlingen würde, war erdrückend real. Und zugleich auch der Gedanke an seinen Angelschein… Und wieder Stöhnen und Geröchel aus der Dunkelheit…
***
Die Gestalt auf der Treppe war jemand von ihnen , da war David sich ganz sicher.
Es war ihm ganz egal. Sollten sie doch mit ihm machen was immer sie wollten, Hauptsache sie gaben ihm etwas zu trinken! Er hatte versucht, sich am Regen zu tränken, aber die paar Tropfen reichten nicht aus. Sie hatten den See versteckt. Oder es hatte den See nie gegeben oder das Meer oder was immer es war. Jedenfalls fand er nicht wieder dorthin zurück. Und das hätte er dringend gemusst, denn die parasitäre Invasion grüner Schleimmonster hatte dafür gesorgt, dass er nicht nur seinen Mageninhalt , sondern stückchenweise sogar den Magen an sich auskotzte, weil sie sich gierig daran erlabten. Irgendetwas sagte ihm, dass mithilfe von Flüssigkeit diese schlimme Leere in ihm abklingen würde. Das Problem war nur, dass es hier nichts zu trinken gab. Sie wollten ihn verdursten lassen. Seine eigene Mutter hatte ihm einmal erklärt: wenn du gespuckt hast, musst du ganz viel trinken. Seine eigene Mutter, die das aber offenbar vergessen hatte und sich auf die Seite der anderen stellte. Dort hinter die Bäume, irgendwo… Da hockten sie aufeinander und kicherten wieder.
Sie hatten zwischendurch erneut angefangen ihn auszulachen und zu beleidigen.
Und seine eigene Mutter, so fürchterlich das auch war,war die Schlimmste von ihnen .
Sie sagte immer und immer wieder, dass sie wahnsinnig enttäuscht sei, einen so schlechten Sohn zu haben. „Du kriegst nichts auf die Reihe“ hatte sie gesagt. „Du bist einfach nur noch ein Krüppel, David. Weil du von Zuhause wegläufst. Ich hätte dir gleich sagen können, dass du es nicht alleine packst, nach Flensburg zu fahren. Das packst du nicht. Du hättest es eh nicht glauben wollen aber jetzt siehst du es ja selbst.“
Das hatte sie gesagt, oh ja, und wenn er ihr antworten wollte, brachte er nichts heraus. Sein Mund war zu trocken und alles klebte, und jedes Mal, wenn er den Mund öffnete, suppte früher oder später wieder sein Magen aus ihm heraus. Viel konnte davon inzwischen nicht mehr in ihm stecken, das konnte er fühlen. Das Meiste davon hatte er bereits ausgekotzt.
„Es bringt nichts jetzt noch zu trinken!“ rief seine Mutter. Sie sprach langsam und gedehnt, fast wie Frau Wolther, seine frühere Mathematiklehrerin, wenn sie sich an den Kopf fasste und zum Ausdruck bringen wollte, dass man doch unmöglich so blöd sein konnte, dass man diese und jene einfache Regel nicht begriff. David war immer recht gut in Mathe gewesen. Seine Problemfächer waren eher Deutsch, Erdkunde und Englisch.
Deutsch fand er immer langweilig, Englisch absolut überflüssig und Erdkunde ging einfach nicht in seinen Kopf. Es interessierte ihn nicht, welches Land man wo auf dem Atlas fand, in welchen Planquadraten sich der afrikanische Kontinent befand oder wie viele Bundesländer es in Deutschland gab. Aber mit Geometrie und dem Dreisatz arbeiten war schon okay. Das war Logik und man kam zu einem Ergebnis. Warum seine Mutter sich also ausgerechnet wie Frau Wolther anhörte war ihm schleierhaft. „Du wirst gegen diese Schmerzen nicht mehr ankommen, Davilein. Vergiss es! Du brauchst auch jetzt nicht mehr anfangen großartig was zu trinken. Du bist befallen von ekelhaften Fliegenmonstern. Niemand mag dich mehr anfassen, keiner vermisst dich und niemand wird je nach dir suchen. Begreif das doch endlich. Du bist ein Versager. Ein Ver-saaa-ger!“ Und irgendwann schließlich kamen Scheinwerfer. Und jetzt würde er sie doch um etwas zu trinken bitten. Mehr brauchte er gar nicht. Nur ein kaltes Glas Wasser, das
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