Per Anhalter (German Edition)
geliebt, aber sie selbst mochte ihn nicht besonders gern hören. Sie fand auch Elvis Presley nicht schön, ganz im Gegensatz zu ihrer Oma, die manchmal sogar eine Schallplatte von ihm oder von Hans Albers (den ihr Opa immer gern gehört hatte, wie ihre Oma ihr schwermütig erzählt hatte, als sie noch Oma war) auflegte.
„Ich möchte nur dass du das weißt, Spatz“ sagte Klaus und begann damit, ihren Nacken zu kneten. Es war indes an diesem Abend auch das erste Mal, dass er Spatz zu ihr sagte oder sie mein Mädchen nannte. Später hätte sie nicht sagen können, ob ihr das auch nur ansatzweise besser gefiel, als wenn er Dirne zu ihr sagte oder Schlampe . Wahrscheinlich weil es letztlich aufs Gleiche hinauslief, einfach weil er es sagte.
„Weißt du, ich habe selbst keine Enkelkinder musst du wissen. Das finde ich ein bisschen traurig. Genauso wie du es sicher traurig findest, dass du keinen Opa hast, stimmts?“ Sie schaute ihm in die Augen. Und weil sie das tat, nickte sie erneut.
„Siehst du. Und Oma findet es auch traurig, dass sie keinen Mann hat. Es ist doch also für uns alle, also sowohl für dich, für deine Oma und auch für mich, wirklich gut so, oder?“
Sie lächelte. Und nickte erneut (widerstrebend!).
„Ja. Siehst du. Es ist gut so“ lachte er grunzend.
„Illy mein Schatz“, sagte er (jetzt ziemlich feierlich klingend), „Schenk dem Mädchen doch mal ein Gläschen ein. Ich möchte mit ihr anstoßen!“
Illy, das war der Spitzname ihrer Oma. Ilse hieß sie richtig. Ad hock fiel ihr niemand außer Klaus ein, der sonst noch Illy zu ihr sagte. Sie holte ein Glas, und zwar eines von den Guten für besondere Anlässe, aus dem Wohnzimmerschrank und stellte es auf den Tisch.
„Ich hol mal...“ fing sie an,
„Du holst gar nichts“ unterbrach Klaus gönnerhaft und wand sich an Nadine: „Spatzi, sag an. Rum oder Abbelkorn?“ Sie war völlig perplex. Sie wollte weder das eine noch das andere trinken, jedoch auch niemanden vor den Kopf stoßen. Sie zuckte unsicher zusammen und sagte gar nichts.
„Dann kriegst du Rum!“ bestimmte Klaus, nahm die Flasche in die Hand und schenkte ihr ein.
„Also“ sagte er dann, „Von nun an bin ich Opa für dich! Prost, mein Spatz!“
Das Glas zitterte in Nadines Hand. Es machte kling als Klaus (Opa…) mit ihr anstieß.
Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange auf. Der Rum brannte zunächst wie Zunder auf der Zunge und nochmal so schlimm in ihrem Rachen, als sie ihn schluckte. Oma stand vor ihr, beugte sich zu Klaus hinab und küsste erst ihn und anschließend sie.
„Denn mal Prost ihr Lieben! Auf Euch, auf uns!“ lallte sie und ließ sich auf das Sofa nieder. Der spitzköpfige und ausgesprochen unangenehm wirkende Mann hob nun ebenfalls sein Glas.
„Auf Euch“ sagte er mit sonorer Stimme und einem schiefen Grinsen. Auch er trank Rum. Oma legte ihre dünne, knochige Hand auf ihr Bein. Sie trug noch immer ihren Ehering, was ihr damals schon sonderbar vorkam. Viel sonderbarer jedoch war die Art, wie sie sie berührte. Zärtlich und hartnäckig zugleich, von innerer Unruhe getrieben. Doch das wirklich sonderbare sollte erst noch geschehen.
Klaus legte seine Hand ebenfalls auf ihr Bein. Seine Hand war schwer und groß. Er hatte stets sehr gepflegte Hände... Er saß ja auch nur hinterm Schreibtisch.
Ein Beamter.
Er war ein popeliger Beamter.
Fotze stand an der Wand. Die Wand war vor langer Zeit einmal weiß gewesen. Inzwischen war sie ausgeblichen und beschmiert und vergilbt.
Wer mochte vor ihr wohl schon alles auf dieser Pritsche hier gelegen haben?
Und welche Schicksale hatten sie alle?
Und wieso schrieb man Fotze auf eine Wand oder malte einen Hund mit Bürstenhaarschnitt und einer Schleife um den Hals darauf?
Draußen im Flur waren Schritte. Und Stimmen. Sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Es war nur ein tiefes Brummen. Dann hörte sie einen Schlüssel, der im Schloss gedreht wurde.
Das ist bei mir. Sie kommen zu mir!
Sie drehte sich um. Aber es kam niemand.
Wieder fiel irgendwo eine Tür krachend ins Schloss.
Die Stimmen ebbten ab. Irgendwo – ganz weit weg – krachte es wieder.
Eine Tür am anderen Ende der Welt wie es den Anschein hatte.
Aber ihre Zellentür blieb geschlossen. Verriegelt.
Sie können mich sehen, aber ich sehe sie nicht…
Diese Tatsache wurde ihr ganz plötzlich bewusst und sie fand es sehr ungerecht.
Aber es änderte nichts.
Jetzt waren draußen nicht einmal mehr
Weitere Kostenlose Bücher