Per Anhalter (German Edition)
das denn hier für ein Geschrei!“
„Meine Tochter ist da drinnen und da ist ein Wahnsinniger. Wo ist sie? Wo ist die Wohnung?“
Aber Frau Lyhr, die gute alte spießige Frau Lyhr, schüttelte nur den Kopf. Ihre Wohnungstür war keine Wohnungstür mehr, sondern ein Vorhang. Ein großer bunter Vorhang.
Und sie war dahinter verschwunden. Einfach weg, wie eine schemenhafte Geistergestalt.
„HILFEEE! HILFEEEE!“
David lachte. David lachte und lachte und lachte. Und sie hatte das Gefühl, sich immer weiter von ihm zu entfernen… Von ihm und Marie-Joy. Und dann geschah das, was sie befürchtet hatte. Marie-Joy fing an zu weinen.
Wasser plätscherte.
David lachte noch immer.
Wieder plätscherte Wasser… Ein dumpfes Geräusch.
Stimmen… Überall Stimmen…
Von überall her…
Und mitten drin weinte ihre kleine Tochter.
Und weinte…
Und weinte…
Und dann war sie aufgewacht! Timo lag neben ihr. Er regte sich leicht stöhnend.
Sie war in ihrem Bett, in ihrer Wohnung. Es war nur ein böser Traum gewesen. David war nicht zurückgekehrt. Das einzige, was mit ihrem Traum übereinstimmte, war das erneute Weinen ihrer Tochter. Timo war im Begriff aufzustehen.
„Bleib liegen, Schatz“ sagte sie. „Ich geh schon.“,
„Mmmmh, okay.“,
„Ich hab so´n Scheiß geträumt grad.“,
„Mmmmh, war ja nur ´n Traum!“
Wie wahr , dachte sie und stand auf.
Und damit hatte es sich. Der Traum war so schnell wieder verblasst, wie er sie überfallen hatte. Der Schatten der Vergangenheit, der sich perfide an sie heran geschlichen hatte, und der doch nicht mehr groß und mächtig genug war, sie in irgendeiner Weise zu kontrollieren.
26. September 2013, kurz nach 17 Uhr
Marie-Joy spielt mit Timos ausrangiertem Handy. Das ist ihr Lieblingsspielzeug. Unglaublich, oder? Das Ding geht zwar noch an, aber das Display ist dauernd verschwommen. Trotzdem kann sie damit „ Futus “ machen und „ Mozik an “ spielen.
Dieses blöde alte Gerät stellt sämtliche Kuscheltiere, Plastikküchen und Püppies locker in den Schatten.
Timo ist gerade unter der Dusche, wie immer wenn er von der Arbeit kommt.
Sie wirft ein nasses Geschirrhandtuch in die Waschmaschine und schmunzelt, als sie ihr kleines Mini-Me lachen hört. Dann setzt sie sich aufs Sofa und klappt ihr Laptop auf. Fünf Minuten. Nur einmal fix gucken was es neues gibt bei Facebook und Twitter, und dann will sie sich ums Abendbrot kümmern. Auf Wunsch eines einzelnen Herrn stehen heute Bratkartoffeln auf dem Speiseplan. Für Marie ist das noch nichts. Sie bekommt Kartoffelpüree mit Erbsen und Fleischwurststückchen.
Lena freut sich immer wieder, wenn das Hintergrundbild aufleuchtet. Marie-Joy, Timo und sie letzten Sommer im Legoland. Das war ein schöner Tag, zusammen mit Natascha und Carsten und dem kleinen Leon. Sie denkt gern daran zurück und ist jedes Mal wieder überwältigt davon, wie groß ihr kleines Mädchen seither geworden ist.
Es ist, als würde sie jeden Tag tausend neue Sachen lernen und ihr selbst ein Stückchen ähnlicher werden. Mit nur einem Klick ist sie auf Facebook. Und siehe da, sie hat zwei neue Nachrichten, eine neue Info und sogar eine neue Freundschaftsanfrage. Das ist aufregend!
Sie fragt sich, wer es wohl sein wird und hat in der Tat keinen blassen Schimmer.
Lena hat zig Freunde auf Facebook, von denen sie viele erst einmal im Leben gesehen hat. Auf irgendwelchen Partys oder in Diskotheken... Von damals halt, als das Leben noch frei und unbeschwert und dennoch nicht so schön war wie mit Marie-Joy.
Selbstverständlich schaut sie zuerst auf die Freundschaftsanfrage.
Und sie sieht lange und sehr genau hin. Ihr Magen zieht sich zusammen. Das kann nicht sein! Was sie sieht ist vollkommen unmöglich! Ihr Blick wandert auf ihre Tochter, dann wieder auf das Display. Ihre Hand liegt um ihren Hals.
Ihre Welt, ihr Leben, ihr Gerüst – alles gerät auf einmal ins Wanken.
Er steht unten und wackelt am Gerüst.
Timo weiß nichts davon. GAR NICHTS!
Er wird kommen und es Timo sagen. Er wird ihm von früher erzählen. Er wird ihm alles erzählen. Das dunkle Geheimnis...
Nein, das kann nicht sein! Sie bekommt kaum noch Luft. Warum tut er ihr das an?
Wie kann er es wagen, ihr das Leben zerstören zu wollen?
Nein, ablehnen. Ablehnen, ablehnen, ablehnen. Ich will nicht mit David Gimm befreundet sein. Ich wollte es nie, ich will es nicht und werde es nie wollen. Ihre rechte Hand liegt auf der Mouse, zittert. Ihr wird
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