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Per Anhalter (German Edition)

Per Anhalter (German Edition)

Titel: Per Anhalter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oke Gaster
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Merkwürdiger Weise war sie in der elterlichen Wohnung in der Eckenerstraße und nicht in ihrer eigenen Wohnung in der Osterallee in Flensburg-Mürwik. So ist das halt manchmal in Träumen. Sie sind ein wirres Gestrüpp aus Halbwahrheiten, in dessen Wurzeln das Gift tief verwurzelter Ängste steckt. Ängste, die wir eigentlich längst bekämpft zu haben glauben. Ängste, die in den Tagen der Kindheit allgegenwärtig waren und die wir längst mit abgeklärten Augen und einem Kopfschütteln belächeln. Eine Klingel, schrill und laut zum Beispiel, wenn wir alleine in der Wohnung sind. In unseren Träumen kann sie uns noch immer Angst machen, uns die Kehle zuschnüren und in den Wahnsinn treiben!
    Sie war an die Haustür gegangen, hatte durch den Spion gesehen.
    Eine grauenvoll intensive Welle der Erinnerungen überfiel sie. Niemand stand vor der Tür. Niemand den sie sah.
    Aber dann... Dann sagte jemand von der anderen Seite aus ihren Namen.
    Er sagte, „Mach doch auf, Lena. Ich bin es.“ Und noch bevor sie antworten konnte, schoss eine blutige Hand durch den Zeitungsschlitz. Eine Hand, an der auch Erdreich klebte.
    Sie war im Begriff sie zu packen und sie wich im letzten Moment zurück.
    Sie war in einer großen Halle, in der jeder Schritt und jedes Wort einem doppelt so laut vorkommt. Die Halle sah aus wie die Wohnung ihrer Eltern… Mit dem großen Spiegel im Flur und dem alten Sekretär darunter… sie fühlte sich entsetzlich allein. Es gab kein Telefon. Jemand musste es versteckt haben. Jedenfalls war es nicht da, das fiel ihr sofort auf.
    Dann sagte die Stimme von der anderen Seite der Tür aus:
    „Ich bin es doch nur! Du kennst mich doch. Mach doch auf, Lena. Na los.“ Und die Hand peitschte durch den Zeitungsschlitz, trommelte gegen die Tür.
    „Oder hast du mich vergessen?“ Jetzt ragte sogar der Unterarm durch den Schlitz.
    „Ja, hast du? Das find ich nicht nett, Lena. Das finde ich wirklich nicht nett!“
    Der Arm wand sich wie eine Schlange durch den Schlitz hindurch.
    Er verformte sich und wurde länger und länger.
    „Man kann nicht erst sagen man will unbedingt… und dann will man doch nicht.“
    Jetzt umklammerten die blutigen Finger den im Schloss steckenden Schlüssel.
    Sie stand wie gebannt da, unfähig sich zu bewegen-.
    Das Geräusch von Wasser… Es war Marie-Joy, die noch in der Badewanne saß. Sie plantschte.
    „Ich wette dass du dich noch erinnerst, Lena. Ich wette wirklich! Und ich frag mich, warum du auf einmal so einen Schiss vor mir hast. Wir wollten uns treffen, und jetzt treffen wir uns auch. Verstehst du? Ich liebe dich, Lena! Ich hab dich immer geliebt. Und ich habe auch nie aufgehört dich zu lieben… Ich bin…“ Ein ächzendes Geräusch. Dann drehte die Hand den Schlüssel um.
    „Ich bin… per… Anhalter hier! Sooo“ – Er hatte die Tür geöffnet. Sie ging auf.
    Sie wollte ihn nicht sehen, oh nein, das wollte sie nicht! Sie wollte diesen Krüppel nicht sehen. Eines Tages musste er sie finden, sie hatte es all die Jahre über gewusst.
    Er würde sie finden. Und jetzt war er da, und sie konnte nichts tun außer gebannt da zu stehen.
     
    … Und sie hatte auch nicht wegsehen können.
    Da saß er. In seinem Rollstuhl. Und grinste sie an. Sein Kopf war blutüberströmt. Blätter und Erde klebten an seinem Körper. Aus seiner Nase troff ein langer, schleimiger Faden. Stickiger, modriger Fäulnisgeruch breitete sich aus.
    Er öffnete seinen Mund. Sein Gebiss war schwarz und rot und es fehlten Zähne.
    „Endlich!“ Er rollte los. „Endlich!“ wiederholte er.
    Und jetzt war er schon fast bei ihr.
    „Endlich, Lena! Endlich!“
    Sie kreischte und sie rannte davon. Sie musste Marie-Joy schnappen und fortlaufen. Aber das Bad, wo war das verfluchte Bad? Sie fand es nicht mehr. Die Wohnung ihrer eigenen Eltern, in der sie aufgewachsen war, kam ihr wie ein einziges großes Labyrinth vor.
    Ein gigantischer Korridor in einer gewaltigen Kathedrale. Tausende von Türen, Vorhänge, Spiegel… Und da war Frau Lyhr, von nebenan. Die alte Oma. Die Tür – die kannte sie. Also musste sie zurück…Zurück!
    „MARIE-JOY!“ hörte sie sich schreien. „MARIE-JOY!!!“
    Wo war der Krüppel in seinem Rollstuhl? Wo war die Tür zur Wohnung?
    Wo war sie, verdammt? WO WAR SIE???
     
    Sie hielt an, trommelte gegen eine Wand.
    „MARIE-JOY!!!“
    Sie hörte das kindliche Kieksen ihrer Tochter. Plätscherndes Wasser.
    „MARIE-JOY!“
    Frau Lühr war hinter ihr.
    „Was ist denn los? Was ist

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