Per Anhalter (German Edition)
wurde, dachte sie darüber nach, seine Nummer wieder zu wählen, doch jedes Mal legte sie das Handy wieder zurück. Ihr Magen grummelte und ihr war speiübel. Sie spürte, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis sie auf dem Thron hockte und Dünnschiss aus sich heraus drückte. Stress schlug ihr immer sehr schnell auf den Magen. Manchmal reichte schon die bloße Erwartung von Stress, dass sie den halben Tag auf Toilette zubrachte. Wieder nahm sie ihr Nokia in die Hand, wieder wählte sie den Menüpunkt Telefonbuch , wieder drückte sie einmal die drei und David Handy erschien auf dem Display. Nervös rieb sie die Zähne aufeinander – auch wieder so ein typisches Stresssymptom von ihr. Soll ich/Soll ich nicht? Soll ich/Soll ich nicht? Sie haderte, doch schlussendlich drückte sie auf die Taste mit dem grünen Telefon drauf, zündete sich die gefühlt zwanzigste Zigarette hintereinander an und wartete ab. Nichts. Ein Rauschen. Dann: „Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist vorübergehend nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal. The person you have called is temporarily not available. Please call again later. Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer … Sie legte auf.
Ein Krampf quetschte ihren Bauch zusammen und strahlte bis in die Beine aus, die sie übereinander geschlagen hatte. Die Zigarette wackelte in ihrer Hand im Takt des Zitterns, welches sie überfallen hatte. Sie war eine Mutter – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Art Mutter, die das Beste ist, was ein Kind sich vorstellen kann. Sie führte kein grundsolides Leben und war nicht besonders nervenstark. Sie war unorganisiert, oft launisch und nicht immer in der Lage, ihre Eigenarten vor den Kindern verborgen zu halten – und doch liebte sie beide Kinder abgöttisch. Sie wäre für sie gestorben, durch jede Hölle marschiert. Sie hätte Brot gestohlen, wäre keines vorhanden und sich jederzeit hinter sie gestellt. Sie war eine Mutter! Und eine Mutter verfügt über diesen Sinn, diesen einen Extrasinn, der ausschließlich für die Kinder reserviert bleibt.
Man könnte ihn auch Instinkt nennen, auch wenn das ein klein wenig animalisch klingt.
Doch in dieser Hinsicht war sie eine Mutter durch und durch. Ihr Sinn, ihr Instinkt, wie immer man es nennen will, entsandte scheußliche Bilder, die wie Blitze einschlugen und ihren ganzen Körper vereinnahmten. Auch wenn ein anderer Teil in ihr aufbegehrte und „Unsinn“ schrie, spürte sie, dass mit David etwas nicht stimmte. Sie kannte ihren Sohn!
Mochte er ein Müßiggänger sein und rotzfrech, gleichgültig und verschlossen, faul wie die Sünde und lethargisch wie die Nacht – es passte einfach nicht zu ihm, sich abzuseilen von seiner Familie, sich nicht zu melden wenn er angekommen war oder das Handy einfach auszuschalten. Möglich, vielleicht irrte sie sich auch. Vielleicht lag er frisch durchgevögelt neben seiner Lena im Bett und schlief bis in die Puppen. Vielleicht hatte er Lena über seine nervige Mutter unterrichtet und gesagt: „Guck mal, die hat schon wieder angerufen“, woraufhin sie ihn gebeten hatte, das Handy einfach abzuschalten, damit sie wenigstens in Ruhe ausschlafen konnten.
Ja.
Ja, vielleicht war es so. Dann täuschte sie sich eben mal in ihrem Kind, so etwas kam vor, aber der boshafte Dämon, von dem sie besessen war, war in ihre Gedankenwelt eingedrungen und versorgte sie immer weiter mit Bildern. Vielleicht liegt David irgendwo in einem Wald. Nackt. Er ist umgebracht worden; jemand hat ihm zwanzig, dreißig, vielleicht auch vierzig Messerstiche verpasst, weil es einfach Spaß gebracht hat, auf ihn einzustechen. Vielleicht hat David sich verfahren… Ja, vielleicht hat er nicht nach Flensburg gefunden, ist in Panik geraten und sitzt jetzt verzweifelt irgendwo an einer Straße. Vielleicht hat er auf einer Bank geschlafen, draußen, auch wenn Sommer ist, ist es nachts kühl draußen, ja-ja, das glaub man. Vielleicht ist er erschöpft zusammengebrochen. Stell dir mal vor, er fährt und fährt – immer weiter gerade aus – du kennst ja David, oder? Er fährt und fährt und glaubt, er ist schon richtig, und plötzlich merkt er: Scheiße, ich bin in Husum gelandet. In Husum , nur als Beispiel, stell dir das mal vor. Und jetzt geht er in eine Tankstelle (er hat natürlich nicht einen Cent auf der Naht) und fragt die Verkäuferin am Tresen, wie er von hier aus am schnellsten mit dem Fahrrad nach Flensburg kommen kann.
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