Per Anhalter (German Edition)
Oder noch besser, er fragt: „Wie weit ist es von hier noch bis Flensburg?“ und die Frau hinterm Tresen sagt: „Mit dem Fahrrad?“ sie winkt ab, „Pah! Da bist du noch `ne Weile unterwegs, mein Lieber. Flensburg ist an der Ostsee. Du bist hier schon an der Nordsee gelandet… An der Nordsee gelandet… An der Nordsee… Er liegt tot im Wald. Vielleicht ist er vergewaltigt worden. Man meint ja immer, dass nur Mädchen gefährdet sind, aber es gibt genau so viele schwule Kinderficker, oder einfach solche, die froh sind, wenn sie überhaupt mal minderjähriges Frischfleisch entdecken. Und David ist so gut erzogen, so brav und so nett. Er kann so zuvorkommend und höflich sein, woher auch immer er das hat. Von mir? Vielleicht, keine Ahnung. Aber er würde doch mit jedem Landstreicher mitgehen und freundlich sein. Was, wenn er nun… Wenn er… Sie betrachtete ihr Handy. Dann sprang sie schlagartig auf und rannte zum Klo. Sie schaffte es eben gerade noch sich den Slip runterzuziehen, da schoss bereits eine breiige Fontäne aus ihrem Hintern in die Kloschüssel. Innerlich war sie wie eine zerbombte Stadt – Leer und zerstört, voller Schwelbrände, überschüttet mit schweren Gesteinsbrocken, von einer grauenvoll milchig-bleichen Tristesse umnebelt. Sie wollte weinen, jetzt nicht mehr aus Wut sondern aus Verzweiflung.
Die Tränen standen bereits in den Startlöchern.
Sie standen in ihr und warteten nur noch auf den Startschuss.
Nun mach schon: Heul endlich, wir wollen los! Doch sie kamen nicht. Sie verharrten in ihren Augen.
Und so saß sie da, mit heruntergelassener Unterhose, die an zitternden Knien hing, barfuß, noch immer im Schlaf-Schlabberlook, und der Uhrzeiger tickte unbarmherzig weiter. Sie konnte sich nicht einfach eine Stunde vor Dienstbeginn krank melden. Das kann ich nicht , dachte sie, und der Dämon versorgte sie mit Bildern ihres wütenden, ihres enttäuschten Vorgesetzten, ehe er erneut zu David überwechselte. Zu David , der abgestochen, nackt, in einem finsteren Wald lag, der sich verfahren hatte, der rundum hilflos war… oder der einfach neben seiner Freundin lag, ebenfalls nackt, und dessen letzter Gedanke vor dem Einschlafen gewesen sein mochte: Hoffentlich nimmt Lena die Pille. Das wäre so der Klassiker, der althergebrachte David – Volle Kraft voraus und das Wichtigste vergessen.
Und dann war da wieder ihr Chef. Ihr Chef, der zu Gloria, die immer Nachtschicht machte, ging und ihr sagte: „ Raten Sie mal, Frau Ivanhoff, wer schon wieder krank ist. Unsere liebe Frau Gimm…“ – Und Gloria war wütend , innerlich zumindest, weil sie komplett im Eimer war von der Nachtschicht und nun länger bleiben durfte, nur weil sie nicht zur Arbeit kam, die liebe Frau Gimm, die sich eine Stunde vor Dienstbeginn krank meldete. Und Cheffe , wie sie ihn alle nannten, spekulierte schon, wie er die liebe Frau Gimm schnellstmöglich und unbürokratisch aussortieren konnte. Dann hätte sie nichts mehr. Gar nichts.
Oh, doch, David vielleicht. David der wieder nach Hause kam… David, der sich immer noch einen Scheißdreck um alles kümmerte, keinen Ausbildungsplatz bekam, der in neun Monaten vielleicht Papa wurde, wenn Lena längst keinen Bock mehr auf ihn hatte oder er sich längst aus der Verantwortung stahl und…
Warum können bloß diese Scheißgedanken nicht aufhören …
Sie konnte nicht. Sie konnte einfach nicht… Was immer sie wollte –es ging nicht. Sie konnte nicht weinen, sie konnte ihren Sohn nicht erreichen, sie konnte nicht arbeiten. Lediglich auf der Toilettenschüssel sitzen und sich selbst bedauern – das konnte sie. Da sitzen und zittern… Und mit jeder Sekunde die ins Land ging noch verrückter werden… Der Dämon kannte kein Erbarmen, oh nein, denn sie war eine Mutter. Eine verzweifelte Mutter! Eine Mutter am Rande des Wahnsinns, deren ganze Existenz auf wackeligen Beinen stand, und deren Leben ein ewiger Brummkreisel aus Finsternis, Angst und Sorgen war und bleiben würde.
***
Lena hatte diese Sorgen nicht.
Sie war darüber hinweg gekommen.
Gestern Abend war sie mit ihren Freundinnen Natascha und Melanie um die Häuser gezogen, nachdem sie diesem Betrüger David eine bitterböse SMS geschickt hatte. Oh, es war einiges auf ihrem Herzen, doch sie hatte NICHTS in die Richtung geschrieben, dass er ihr das Herz gebrochen hätte. Ganz im Gegenteil! Als Arschloch hatte sie ihn betitelt, als Hurensohn und als einen Drecksack. Außerdem hatte sie gemeint, er solle sich
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