Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
beantworten.«
»Es war einmal, lang ist’s her, da lebte auf unserer Insel ein gewisser Erebus. Er war groß und stark, ein tapferer Krieger, der sein Bestes tat, um seine Freunde vor aller Unbill zu beschützen. Aber er hatte auch ein gutes Herz und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass auf der Insel Frieden herrschte.
Erebus wusste, dass er Letzteres nur mithilfe der silbernen Eichel erreichen konnte. Der Sage nach stand irgendwo im Hedderwald der Baum der Hoffnung – eine mächtige Eiche, deren Geäst nur eine einzige, silberne Frucht trug. Es hieß, wenn jemand diese Eichel in die Hand nähme, ginge sein größter Herzenswunsch in Erfüllung.
Erebus machte sich ganz allein auf, um den Baum der Hoffnung zu suchen. Drei Wochen lang durchstöberte er den Wald, kämpfte gegen Büffeloger, fleischfressende Schnecken und alle möglichen todbringenden Geschöpfe. Noch nie war es jemandem gelungen, sich in diesem Wald länger als ein, zwei Tage zu behaupten, ohne gefressen zu werden, aber Erebus schlug sich irgendwie durch, bis er endlich den Baum der Hoffnung entdeckte. Er pflückte die silberne Eichel und band sie sich um den Hals.
Daraufhin ging sein Traum von einer friedlichen Insel sogleich in Erfüllung – sämtliche gefährlichen Tiere wurdenschlagartig zahm. Die Riesenschnecken krochen brav zum Fluss, wo sie sich fortan von Algen ernährten, und im finsteren Urwaldgestrüpp sprossen bunte Blüten in den leuchtendsten Rosa- und Orangetönen. Sogar die tückischen Büffeloger zogen sich auf die Berghänge zurück, um dort saftiges Gras zu weiden.
Erebus wurde als Held bejubelt und seines Mutes wegen zum Fürsten ernannt. Fortan lebten die Bewohner der Insel glücklich und in Frieden … jedenfalls etliche Jahre lang.
Dann kam eines Abends ein Fremder auf die Insel. Er stellte sich als ›Pedro‹ vor und behauptete, er sei ein Entdecker aus einem fernen Land namens Amazonien. Fürst Erebus führte ihn auf der Insel herum und ließ ihn in unserem Schlupfwinkel übernachten. Beim Abendessen erkundigte sich Pedro nach dem silbernen Amulett an Erebus’ Hals. Der Fürst vertraute Pedro und erzählte ihm von den wundersamen Kräften der Eichel.
Noch in derselben Nacht schlich sich Pedro in die Hütte des schlafenden Fürsten, stahl ihm seinen Talisman und floh in den schützenden Wald. Pedro wusste allerdings nicht, dass es mit dem Frieden sogleich aus wäre, wenn jemand dem Fürsten die Eichel fortnahm. Es war Halbmond in jener Nacht und die Büffeloger kamen blutlüstern von den Hügeln herunter. Nachdem sie jahrelang nur Gras gefressen hatten, waren sie ausgehungert und hatten Pedros Fährte bald aufgenommen.
Erebus erwachte von ihrem Jagdgeheul. Er begriff sofort, was geschehen war, und lief Pedro nach. Es gelang Pedro zwar, den Hedderwald unbehelligt zu durchqueren, aber in der Lilabucht holten ihn die Büffeloger ein. Als Erebus schließlich oben auf der Klippe stand, war Pedro von ihnen umzingelt.
Pedro flehte den Fürsten an, ihm zu helfen. Er behauptete, er habe die Eichel irgendwo auf der Insel versteckt. Er versprach,Erebus zu der Stelle hinzuführen, wenn er ihn nur vor den Büffelogern beschützte. Erebus tat sein Möglichstes, die Bestien zu verjagen, aber nach der langen Verbannung in den Bergen waren sie mordlustiger denn je. Sie verzehrten den unseligen Pedro bei ihrem Halbmondschmaus. Der Fürst kam zwar mit dem Leben davon, aber die silberne Eichel wurde nie wiedergefunden, und seither schwebt ein Verhängnis über unserer Insel.«
20. Kapitel
A
ls Delfina zu Ende erzählt hatte, merkte Hugo erst, dass er mit offenem Mund gelauscht hatte und dass ihm ein Speichelfaden aufs Hemd getropft war.
»Ist ja doll!«, sagte er und wischte sich das Kinn ab. »Dieser Fürst Erebus scheint ein echter Held zu sein.«
»Ja, das ist er … ich meine, das war er«, bestätigte Delfina.
»Ist er denn tot?«
Delfina nickte. »Er blieb noch ein paar Tage am Leben, aber dann erlag er den Wunden, die ihm die Büffeloger zugefügt hatten.«
»Warum sind die Büffeloger überhaupt so böse?«
»Der Sage nach schlummerten sie in grauer Vorzeit tief unter der Erde, in einem Labyrinth aus Höhlen und unterirdischen Gängen. Der Eingang zu dieser finsteren Unterwelt war angeblich eine Höhle im Gebirge. Es war den Tieren des Waldes verboten, dort hinzugehen, denn niemand sollte die Ungeheuer aufstören. Auf der Insel herrschte Frieden, die Tiere suchten ihre Nahrung in oder auf der Erde und in den
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