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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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weitete ihren Einflussbereich aus. Sie hatte einen großen Teil des Shazbahmarkts westlich von The Crow an sich gerissen, worauf Vielgestalt vorbereitet gewesen war, doch jetzt arbeitete sie sich heimlich, still und leise nach Osten vor.
    Lin kaute und verdaute und formte und bemühte sich, ihr Bewusstsein abzuschotten gegen die Spitznamen ermordeter Kuriere, die Adressen konspirativer Wohnungen. Vielgestalt machte sie zu einer Mitwisserin. Vorsätzlich.
    Die Statue bekam Schenkel und ein weiteres Bein, den Anfang einer Taille (insoweit Vielgestalt etwas derart Erkennbares besaß). Die Farben waren nicht natürlich, aber ausdrucksvoll, expressionistisch. Es versprach, ein erstaunliches Werk zu werden, seinem Modell angemessen.
    Ihren Versuchen, sich taub zu stellen, zum Trotz, fand Vielgestalts ungeniertes Parlando seinen Weg in ihren Kopf, und sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken sich mit dem Gehörten beschäftigten. Entsetzt schob sie es von sich weg, doch vergeblich. Früher oder später merkte sie, dass sie überlegte, wer denn nun größere Chancen hatte, das Opja-Tee-Lager in Chimer’s End unter seine Kontrolle zu bringen. Sie stumpfte ab – eine andere Verteidigungstaktik. Sie erlaubte ihrem Verstand, die gefährlichen Informationen zu registrieren, doch nur die dürren Fakten, nicht, was sich dahinter verbarg.
    Nichtsdestotrotz musste sie immer öfter an Ma Francine denken. Wenn Vielgestalt von ihr sprach, dann leichthin, aber sie tauchte immer wieder in seinen Monologen auf, und Lin spürte, dass er ein wenig beunruhigt war.
    Zu ihrer eigenen Überraschung erkannte Lin, dass sie Ma Francine Erfolg wünschte.
    Sie wusste nicht genau, wie es anfing. Zum ersten Mal wurde sie sich dessen bewusst, als Vielgestalt mit sarkastischer Belustigung von einer verheerenden Attacke auf zwei Kuriere in der vergangenen Nacht erzählte und dem Verlust einer größeren Menge einer nicht näher bezeichneten Substanz, Rohstoff für die Herstellung von Drogen wahrscheinlich, der Kheprikämpfern aus Ma Francines Gang in die Hände gefallen war. Lin merkte, dass sie innerlich applaudierte. Erstaunt hielt sie einen Moment in der Arbeit inne, um ihre Gefühle zu analysieren.
    Sie wollte, dass Ma Francine im Konkurrenzkampf mit Vielgestalt Sieger blieb.
    Absurd. Wenn sie nüchtern darüber nachdachte, hatte sie überhaupt keine Meinung zu dem Thema. Vom Verstand her war ihr der Triumph eines Drogendealers und Gangsters über den anderen vollkommen gleichgültig. Doch ihr Gefühl hatte sich die unsichtbare Ma Francine zur Heldin erkoren. Lin spürte in sich ein trotziges Aufbegehren, wenn sie Vielgestalt selbstzufrieden verkünden hörte, er habe einen Plan in der Hinterhand, der die Marktverteilung radikal ändern werde.
    Was soll das?, dachte sie ironisch. Nach all den vielen Jahren das Erwachen von Khepri-Solidaritätsbewusstsein?
    Sie machte sich über sich selbst lustig, aber der ironische Gedanke enthielt ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht würde ich jedem die Daumen drücken, der Vielgestalt Paroli bietet, dachte sie. Lin hatte solche Angst davor, über das Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber nachzudenken, wollte so unbedingt vermeiden, mehr zu sein als eine Angestellte, dass sie lange gebraucht hatte, bis ihr klar wurde, dass sie ihn hasste. Der Feind meines Feindes …, dachte sie. Doch es war mehr als das. Lin musste sich eingestehen, dass sie sich mit Ma Francine solidarisch fühlte, weil sie Khepri war, aber – vielleicht entscheidend – keine gute Khepri.
    Diese Gedanken quälten sie wie Nadelstiche. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sie sich gezwungen, ihr Verhältnis zur Kheprigemeinde aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel zu betrachten, ohne Scheuklappen und selbstgerechten Groll. Und das bewog sie, über ihre Kindheit nachzudenken.
     
    Am Ende einer jeden Sitzung mit Vielgestalt unternahm Lin einen Ausflug nach Kinken. Mit der Droschke ging es über die Danechi oder Barguest Bridge und an den Restaurants und Kontoren und Mietshäusern von Spit Hearth vorbei.
    Manchmal legte sie einen Zwischenhalt in Spit Bazaar ein und bummelte durch das gedämpfte Zwielicht dort. Sie befühlte die Kleider und Mäntel aus Leinen an den Buden, ohne die Passanten zu beachten, die sie anstarrten und sich über die Khepri wunderten, die Menschenmode kaufte. Sie spazierte weiter, bis sie in Sheck herauskam, geschäftig, chaotisch, mit verwinkelten Straßen und Gassen und lang gestreckten Mietskasernen.
    Aber

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