Perdido Street Station 01 - Die Falter
vorstellen«, fuhr Isaac fort: »Bis ich nicht weiß, was im Namen von Jabbers Arsch ich auf diese Stadt losgelassen habe, und bis es mir nicht gelungen ist, Lublamai aus dem Land der Träume zurückzuholen, stehen Themen wie Krisismaschinen und Fliegen ohne Flügel ganz am Ende meiner Prioritätenliste.«
»Du wirst meine Schande kundig machen …«, zischte Yagharek. Isaac fiel ihm ins Wort.
»David weiß Bescheid über deine so genannte Schande!«, blaffte er. »Und schau mich nicht so waidwund an, so arbeite ich nun mal, das ist mein Kollege, mit ihm zu sprechen hat mir geholfen, in deiner Angelegenheit voranzukommen …«
David hob den Kopf und runzelt die Brauen.
»Was höre ich da?«, fragte er scharf. »Krisismaschinen …?«
Isaac schüttelte heftig den Kopf, als hätte er eine Mücke im Ohr. »Habe ein paar Fortschritte in Krisisphysik gemacht. Erzähle ich dir ein andermal.«
David nickte langsam; er akzeptierte, dass momentan nicht die richtige Zeit war, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erörtern, aber die großen, runden Augen verrieten seine Verwunderung und Neugier. Das ist alles?, fragten sie.
Yagharek hatte sichtlich Mühe, seines inneren Aufruhrs Herr zu werden. »Ich brauche deine Hilfe …«
»Ja, genau wie Lublamai hier«, brüllte Isaac, »und das ist mir verdammt viel wichtiger!« Er schnaufte ein paar Mal tief. »Ich lasse dich nicht fallen, Yag, ich habe nicht die geringste Absicht, das zu tun. Aber ich kann jetzt nicht weiterarbeiten.« Er überlegte. »Wenn du willst, dass ich mich möglichst bald wieder deinen Problemen widme, könntest du helfen, statt einfach wieder zu verschwinden. Bleib hier und hilf uns, die Karre aus dem Dreck zu ziehen, dann stehe ich null Komma nichts wieder ganz zu deiner Verfügung.«
David warf Isaac einen schrägen Blick zu. Jetzt fragten seine Augen: Weißt du, was du tust?
Isaac verstand den Blick und ereiferte sich.
»Du kannst hier schlafen, du kannst hier essen … David macht es nichts aus, er wohnt nicht einmal hier, nur ich. Dann, wenn wir etwas erfahren, können wir – nun, vielleicht findet sich etwas, wobei du dich nützlich machen kannst. Wenn du verstehst, was ich meine. Du kannst helfen, Yagharek. Je eher wir die Sache wieder ins Lot bringen, desto eher kann ich an deinem Programm weiterarbeiten. Verstanden?«
Yagharek wirkte eingeschüchtert. Es dauerte einige Minuten, bevor er sich zu einer Äußerung ermannte, und dann nickte er nur und sagte ja, er werde bleiben. Man sah ihm an, dass er an nichts anderes dachte, als an den baldigen Fortgang der ihn betreffenden Forschungsarbeit Isaac rang um Toleranz. Der traumatische Verlust der Flügel, Leid und Elend hatten sich wie bleierne Ketten um Yaghareks Seele gelegt. Er war kompromisslos selbstsüchtig, aber nicht ohne Grund.
David schlief auf seinem Stuhl ein, erschöpft und kummervoll.
Isaac übernahm die Nachtwache bei Lublamai. Der hatte das Essen verdaut, und die erste, unangenehme Pflicht bestand darin, ihn von den Ergebnissen dieses Prozesses zu säubern.
Isaac bündelte die voll geschissenen Klamotten zusammen und steckte sie in die Feuerung eines der Dampfkessel. Seine Gedanken wanderten zu Lin. Er hoffte, sie möge bald kommen.
Er hatte Sehnsucht.
KAPITEL 26
Rätselhaftes begab sich in der Nacht.
Morgens, kurz vor Tagesanbruch, und etwas später, nachdem die Sonne aufgegangen war, wurden weitere besinnungslose Personen gefunden. Diesmal waren es fünf. Zwei Vaganten unter den Brücken von Gross Coil. Ein Bäcker auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstelle in Nigh Sump. Ein Arzt in Vaudois Hill. Eine Flussschifferin hinter Raven’s Gate. Verschiedene Tatorte, willkürlich über die Stadt verteilt, ohne erkennbares Muster. Es gab kein Viertel, in dem man sich sicher wähnen konnte.
Lin schlief unruhig. Isaacs Nachricht hatte sie gerührt – zu denken, dass er durch die halbe Stadt lief, nur um einen Zettel an ihre Tür zu heften –, aber sie machte sich auch Sorgen. Die wenigen Zeilen hatten einen hysterischen Unterton, und die Bitte, zu ihm zu kommen, war ein dermaßen krasser Bruch mit seinen Prinzipien, dass es ihr Angst einjagte.
Nichtsdestoweniger hätte sie sich sofort auf den Weg gemacht, wäre sie nicht zu spät nach Hause gekommen, als dass sie hoffen konnte, noch vor nachtschlafender Zeit nach Brock Marsh zu gelangen. Sie war nicht zur Arbeit gewesen. Am Morgen vorher hatte sie beim Aufstehen einen unter der Tür hindurchgeschobenen Brief
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