Perdido Street Station 01 - Die Falter
Kinn eckiger. Die üppigen Hängebacken geschrumpft.
Blaue Flecken erschienen in ihrem Gesicht.
Eine Sekunde stand sie da wie zu Stein geworden, dann fiel sie plötzlich auf alle viere. Derkhan schrie unwillkürlich auf, doch sie sah, dass Umma Balsums Augen offen und klar waren.
Die Communicatrix setzte sich plumpsend hin, mit gespreizten Beinen, den Rücken gegen das Sofa gelehnt.
Ihr Blick wanderte langsam in die Höhe, während sich eine Falte der Ratlosigkeit zwischen ihre Brauen grub. Sie schaute zu Derkhan auf, starr, als versuchte sie, in weiter Ferne etwas zu erkennen. Umma Balsums Mund (fester und mit schmaleren Lippen) öffnete sich in fassungslosem Staunen.
»Dee?«, zischte sie mit einer Stimme, in der ein dunkleres Timbre mitschwang.
Derkhan starrte Umma Balsum entgeistert an.
»Ben …«, fragte sie schwach.
»Wie bist du hier reingekommen?« Umma Balsum erhob sich rasch. Sie musterte Derkhan staunend. »Ich kann durch dich hindurchsehen …«
»Ben, hör mir zu.« Derkhan merkte, dass sie ihn beruhigen musste. »Bleib wo du bist. Du siehst mich via Communicatrix, die mit dir harmonisiert ist. Sie hat sich in einen vollkommen passiven Empfangszustand versetzt, so dass ich direkt mit dir sprechen kann. Begreifst du, was ich sage?«
Umma Balsum, die jetzt Ben war, nickte heftig. Sie bewegte sich nicht mehr und sank wieder auf die Knie. »Wo bist du?«, flüsterte sie/er.
»In Brock Marsh, unten am Coil. Ben, wir haben nicht viel Zeit. Wo hat man dich hingebracht? Was ist passiert? Haben sie – haben sie – dir etwas angetan?«
Zwei Meilen entfernt schüttelte Benjamin Flex jämmerlich den Kopf, und Derkhan sah es unmittelbar vor sich.
»Noch nicht. Sie haben mich in Ruhe gelassen – vorläufig …«
»Woher wussten sie von deinem Versteck?«
»Jabber, Dee, sie haben immer Bescheid gewusst. Dieser Schweinehund Rudgutter war vorhin bei mir und er – er hat mich ausgelacht: Er hätte immer gewusst, wo Lauffeuer gemacht wird, nur wäre es nicht der Mühe wert gewesen, uns auszuheben.«
»Es war der Streik«, sagte Derkhan verzweifelt. »Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte …«
»Nein.«
Derkhan hob ruckartig den Kopf. Bens Stimme, oder was in seinem Tonfall aus Umma Balsums Mund kam, klang schneidend scharf. Die Augen, die sie anschauten, waren hellwach und zwingend.
»Nein, Dee, es war nicht der Streik. Dammich, ich wünschte, wir könnten so viel bewegen, dass es ihnen Sorgen macht. Nein, das war nur Tarnung.«
»Aber was …«
»Ich sage dir, was ich weiß. Nachdem man mich hierher gebracht hat, kommt Rudgutter herein und hält mir das neue LF unter die Nase. Und weißt du, worauf er zeigt? Die wirklich hanebüchene, dürftige Story in der zweiten Spalte. ›Macht Gute Ernte Geschäfte mit der Unterwelt?‹ Du erinnerst dich – das war die Sache mit dem Informanten, der behauptet, die Regierung hätte irgendeinen Mist, ein schief gegangenes wissenschaftliches Projekt an irgendeinen Dunkelmann verkauft. Nichts! Wir hatten nichts! Wir haben nur ein bisschen in der Scheiße gerührt! Und Rudgutter wedelt mit dem Artikel und schiebt ihn mir ins Gesicht und …« Umma Balsums Blick irrte ab, als Ben sich erinnerte. »Er redet auf mich ein. ›Was wissen Sie über die Angelegenheit, Mr. Flex? Woher stammen Ihre Informationen? Was wissen Sie über die Falter?‹ Kein Witz! Falter, wie in Schmetterlinge. ›Was wissen Sie über Mr. Vs derzeitige Schwierigkeiten?‹«
Ben schüttelte Umma Balsums Kopf. »Hast du alles mitgekriegt? Dee, ich habe keinen Schimmer, auf was wir da gestoßen sind, aber es muss ein Wespennest sein, dass Rudgutter sich deswegen in die Hose macht. Deshalb hat er mich geschnappt. Er hat immer wieder gesagt: ›Wenn Sie wissen, wo die Falter sind, tun Sie sich den Gefallen und sagen Sie’s mir.‹ Dee …« Ben erhob sich vorsichtig. Derkhan öffnete den Mund, um ihn an seinen begrenzten Bewegungsradius zu erinnern, ließ es aber bleiben, als er auf Umma Balsums Beinen mit kleinen Schritten näher kam. »Dee, du musst an dieser Sache dranbleiben. Sie haben Angst, Dee, richtig Angst. Das müssen wir ausnutzen. Keine Ahnung, was er gemeint hat, aber er dachte wohl, ich stelle mich nur dumm. Deshalb habe ich weiter so getan, weil es ihn verdammt nervös gemacht hat.«
Scheu, zittrig, streckte Ben Umma Balsums Hand nach Derkhan aus. Derkhans Kehle wurde eng, als sie sah, dass er weinte. Tränen rollten über sein Gesicht, ohne dass er einen Laut von
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