Perdido Street Station 02 - Der Weber
hatte den Rückenpanzer an einigen Stellen aufgebrochen und zurückgebogen und das rohe Fleisch darunter entblößt, das Fraßspuren zeigte, manche verschorft. Eins ihrer Facettenaugen war eingedrückt und blind. Das mittlere Kopfbein links und das hintere rechts waren herausgedreht worden.
Isaac fiel vor ihr auf die Knie und umarmte sie, drückte sie an sich. Sie war so dünn, so schmal, so elend und verstört, ihr Körper stocksteif, als könnte sie nicht glauben, dass er wirklich da war, als könnte man ihn ihr wieder entreißen, um sie noch mehr zu quälen.
Isaac hielt sie fest und weinte. Er hatte fast Angst, sie anzufassen, man konnte die zarten Knochen unter der Haut fühlen, so zerbrechlich.
»Ich wäre gekommen«, schluchzte er, überwältigt von Kummer und Glück. »Ich wäre gekommen, aber ich dachte, du wärst tot …«
Sie schob ihn ein klein wenig von sich weg, bis sie Raum hatte, um die Hände zu bewegen.
Sehnsucht nach dir, liebe dich, zeigte sie fahrig, hilf mir rette mich bring mich weg konnte nicht konnte mich nicht sterben lassen, bis das hier fertig ist …
Zum ersten Mal richtete Isaac den Blick bewusst auf die surrealistische Skulptur, die hinter ihr stand und an der sie mit Kheprispei gearbeitet hatte. Es war ein unglaubliches, vielfarbiges Gebilde, eine bestürzende kaleidoskopische Gestalt aus zusammengesetzten Albträumen; Glieder und Augen und Beine in grotesken Kombinationen. Sie war beinahe vollendet, bis auf ein Stück Rahmenwerk, wo, wie es aussah, ein Kopf hingehörte, und eine unmotivierte Lücke, die eine noch fehlende Schulter vermuten ließ.
Isaac schnappte nach Luft, schaute wieder auf Lin.
Lemuel hatte Recht gehabt. Es gab, strategisch betrachtet, für Vielgestalt keinen Grund, Lin am Leben zu lassen. Jeden anderen Gefangenen hätte er sich schnellstmöglich vom Hals geschafft. Aber seine Eitelkeit, seine mystische Selbstüberhöhung, seine philosophischen Spinnereien brauchten Lins Kunst als Stimulus. Das hatte Lemuel nicht ahnen können.
Vielgestalt fand den Gedanken unerträglich, dass sein Standbild unvollendet bleiben sollte.
Derkhan und Yagharek kamen herein. Kaum hatte Derkhan Lin erspäht, da schrie sie fast ebenso laut wie Isaac vorher. Sie lief quer durch den Raum dorthin, wo Isaac mit Lin am Boden kniete, und warf die Arme um alle beide, weinte und lachte gleichzeitig.
Yagharek näherte sich zögernd.
Isaac redete auf Lin ein, schwor hoch und heilig, es tue ihm Leid, er wäre überzeugt gewesen, Vielgestalt hätte sie ermordet, dass sonst nichts ihn hätte davon abhalten können, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um sie zu retten.
Hat mich gezwungen zu arbeiten, hat mich geschlagen und – gequält und verhöhnt, zeigte Lin, benommen, verwirrt, schwach vor Erleichterung.
Yagharek schickte sich an, etwas zu sagen, doch plötzlich warf er den Kopf herum.
Im Flur draußen hörte man das eilige Trampeln schwerer Stiefel.
Isaac stand auf, zog Lin in seiner Umarmung mit sich vom Boden hoch. Derkhan entfernte sich von den beiden. Sie zog ihre Pistolen und wandte sich zur Tür. Yagharek trat in den Schatten der Skulptur, die Peitschenschnur zum Schlag geordnet in der Hand.
Die Tür flog auf, prallte krachend gegen die Wand.
Vielgestalt stand vor ihnen.
Isaac sah ihn als Silhouette vor den schwarz gestrichenen Wänden des Korridors, fantastische Umrisse, ein Garten unterschiedlicher Gliedmaßen, ein wandelndes Flickwerk organischer Variationen. Isaac fiel die Kinnlade herunter. Er merkte, als er die schlurfende bocks- und vogel- und hundefüßige Kreatur betrachtete, die sich windenden Tentakel und Gewebsballungen, die zusammengesetzten Knochen und gezüchtete Haut, dass Lins Werk nicht ihrer Fantasie entsprungen war, nicht einmal teilweise, sondern mit äußerster Akribie nach dem Leben gearbeitet.
Bei Vielgestalts Anblick sank Lin in sich zusammen vor Angst und der Erinnerung an Schmerz. Isaac fühlte, wie eine unbändige Wut in ihm aufstieg.
Vielgestalt trat einen Schritt zurück und schaute hinter sich in den Flur.
»Wache!«, blaffte er mit einem nicht genau auszumachenden Mund. »Zu mir!« Er wandte sich wieder ins Zimmer.
»Grimnebulin«, sagte er. Seine Stimme klang nüchtern, präzise, befehlsgewohnt. »Bist du doch noch gekommen. Hat dich meine Nachricht nicht erreicht? Ein bisschen nachlässig, findest du nicht?« Vielgestalt trat in den Raum und in die vage Helligkeit des Fensters.
Derkhan feuerte zweimal. Ihre Kugeln fetzten
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