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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Panik.
     
    Die Leibwache aus Remade quirlte hinter Vielgestalt ratlos durcheinander. Die Männer versuchten, sich an ihrem Chef vorbeizudrängen, doch er stand mit seinen zahlreichen Beinen fest verankert auf der Schwelle. Er starrte in tiefer Trance auf die Falterschwingen.
    Es waren fünf Remade hinter ihm. Sie dürsteten danach einzugreifen. Sie waren speziell geschaffen worden, um Gierfalter zu bekämpfen, weil man von Anfang an damit rechnete, dass es Probleme geben könnte. Zusätzlich zu normalen Waffen waren drei mit Flammenwerfern ausgerüstet, einer mit einem Zerstäuber für femtokorrosive Säure, der fünfte mit einer elyktrothaumaturgischen Harpune. Sie konnten ihr Ziel sehen, aber sie konnten es nicht erreichen.
    Sie versuchten, mit ihren Waffen an Vielgestalt vorbeizuzielen, aber seine diversen Auswüchse verdeckten ihr Schussfeld. Sie verfluchten sich gegenseitig, probierten dies und das, doch nichts gelang. In ihren Spiegeln beobachteten sie den riesigen, räuberischen Falter zwischen Vielgestalts Armen und Gliedern hindurch, durch die Lücken in seiner Physiognomie. Der monströse Anblick dämpfte ihre Kampfeslust ein wenig.
    Isaac tastete mit dem nach hinten gestreckten Arm nach Lin. »Komm her«, zischte er, »und sieh dich nicht um.«
    Es klang wie der Kehrreim zu einem Kinderspiel, einem grausigen Ringelreihen.
    Yagharek und Derkhan schoben sich leise, leise hinter dem Rücken des Falters aufeinander zu. Er stutzte und wetzte die Zähne, aber die Masse der Gestalten vor ihm wirkte bedrohlicher und er schaute sich nicht um.
    Lin kroch auf allen vieren quälend langsam zu Isaac hin. Ein kleines Stück nur noch von ihm entfernt, fast schon in Reichweite seiner Hände, die blind nach ihr griffen, hielt sie inne. Sie sah Vielgestalt unverwandt, wie von einem erstaunlichen Anblick gefesselt, an Isaac vorbei- und über sie hinwegschauen, fasziniert von – etwas.
    Sie wusste nicht, was geschah, was sich hinter ihr befand.
    Sie wusste nichts von den Faltern.
    Isaac sah sie zögern und beschwor sie, nicht anzuhalten, komm weiter, komm her, komm zu mir und sieh dich nicht um!
     
    Lin war Künstlerin. Sie arbeitete mit Tast- und Geschmackssinn, schuf begreifbare Objekte. Sichtbare Objekte. Skulpturen, mit Auge und Hand zu erforschen.
    Sie war fasziniert von Farbe und Licht und Schatten, von dem Zusammenspiel von Formen und Linien, negativen und positiven Räumen.
    Sie war lange in dem kahlen Speicherraum eingeschlossen gewesen.
    Jemand anderer in ihrer Lage hätte vielleicht das Abbild Vielgestalts entstellt, zerstört. Immerhin war der Auftrag zu einer Bestrafung geworden. Lin aber vernichtete weder das bisher Geschaffene, noch erlaubte sie sich, bei der Fortführung der Arbeit Verrat an ihrer Kunst zu üben. Sie ließ alles in dieses Standbild hineinfließen, ihre gesamte aufgestaute kreative Energie in dieses eine monolithische, perverse Werk. Vielgestalt hatte es gewusst.
    Es war ihre einzige Fluchtmöglichkeit gewesen. Ihr einziges Mittel, sich auszudrücken. Allen Lichtes der Welt beraubt, aller Formen und Farben, hatte sie sich auf das Objekt ihrer Schmerzen und Angst konzentriert, bis zur Besessenheit. Schuf sich einen Gefährten, um die Leere auszufüllen.
    Und nun war etwas Ungewöhnliches in ihre Dachkammerwelt eingedrungen.
    Sie wusste nichts von den Gierfaltern. Der Befehl, sieh dich nicht um, war vertraut aus Märchen und Sagen, hatte Gewicht einzig als moralische Ermahnung, eine erzieherische Floskel. Was Isaac meinte, war vermutlich beeil dich, oder frag nicht, so etwas Ähnliches. In seiner Aufregung wusste er wahrscheinlich gar nicht genau, was er sagte.
    Lin war Künstlerin. Misshandelt und gefoltert, abgestumpft durch Gefangenschaft und Schmerz und Demütigung, ahnte sie nur, dass etwas Außergewöhnliches, etwas absolut Faszinierendes sich hinter ihr befand. Und hungrig auf jede Art von Wunder nach den qualvollen Wochen zwischen diesen tristen, farb- und formlosen Wänden, zögerte sie nur einen Sekundenbruchteil und dann schaute sie sich um.
     
    Isaac und Derkhan schrien in ungläubigem Entsetzen, Yaghareks Aufschrei klang wie der einer zornigen Krähe.
    Mit ihrem einen guten Auge nahm sie die fantastische Gestalt des Gierfalters in ihrer Ganzheit auf, dann fiel ihr Blick auf die wallenden Farben der Schwingen, und ihre Mandibeln klapperten kurz und sie war still. Gebannt.
    Sie hockte auf dem Boden, den Kopf über die linke Schulter nach hinten gewandt und starrte in

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