Perfekte Manner gibt es nicht
den reglosen Sam, der nur wenige Schritte entfernt lag. »Wollen Sie nicht versuchen … ich weiß nicht … ihn wiederzubeleben?«
»Moment mal.« Jack breitete die Arme aus, und sie bemerkte die Lederhandschuhe, die er inzwischen angezogen hatte. »Im wirklichen Leben bin ich kein Arzt. Ich spiele ihn nur im Fernsehen.«
Lou schnitt eine Grimasse. »Sie wissen genau, was ich meine. Sollten wir nicht … irgendwas für ihn tun?«
»Warum?« Plötzlich klang die Fünfzehn-Millionen-Dollar-Stimme eisenhart. »Er wollte uns umbringen. Erinnern Sie sich?«
»Trotzdem sorgen Sie sich um ihn!«, argumentierte sie ärgerlich. »Sonst hätten Sie ihn nicht aus dem Wrack geholt und in Sicherheit gebracht, oder?«
»Nun ja …« Jack zuckte wieder die Schultern. Diesmal wirkte es etwas unbehaglich. »Ich konnte ihn nicht da drin liegen lassen. Immerhin hat er Kinder.«
»Kinder?« Sie konnte immer noch nicht glauben, was da gerade passierte. Saß sie tatsächlich im Schnee und führte dieses Gespräch mit Jack Townsend? Hatten sie wirklich einen Hubschrauberabsturz in der Wildnis von Alaska überlebt? Oder war das eine bizarre Welt, eine andere Realität, so wie in Superman ? »Welche Kinder? Wieso wissen Sie, dass er Kinder hat?«
O ja, eindeutig eine andere, bizarre Welt. In der Wirklichkeit würde Jack Townsend sich nicht zu ihr in den Schnee setzen, eine billige braune Brieftasche aus der Innentasche seiner Jacke ziehen und sie öffnen. Eine Plastikhülle mit einem halben Dutzend Schulfotos fiel heraus. »Vier«, teilte er ihr mit. »Das hat mich ebenso überrascht wie Sie. Eigentlich hielt ich ihn nicht für den väterlichen Typ.«
Alle vier Kinder brauchten eine Zahnbehandlung.
Das stellte Lou mit einem kurzen Blick fest. Kein Wunder, dass Sam Geld brauchte …
»Haben Sie einem bewusstlosen Mann die Brieftasche geklaut?«, erkundigte sie sich.
Da zuckte Jack ein drittes Mal die Schultern und verstaute die Fotos wieder in der Brieftasche. »Hey, jemand bezahlt ihn, damit er mich tötet. Ich dachte, dass ich in der Brieftasche einen Hinweis auf meinen Feind finden könnte.«
Unsicher blickte sie von seinem Gesicht zu der Brieftasche und wieder zurück. »Und?«, fragte sie, als er keine nähere Erklärung abgab. »Haben Sie was gefunden?«
»Nein«, sagte er und steckte die Brieftasche wieder ein.
Lou musterte sein Profil. »Bevor Sie ihn aus dem Wrack geholt haben, wussten Sie nichts von seinen Kindern«, betonte sie trocken.
»Stimmt«, gab er sichtlich widerstrebend zu.
Erstaunlich. Also besaß er tatsächlich ein Herz. Wenn sie das alles überlebte, würde sie sich bei Vicky entschuldigen müssen, weil sie daran gezweifelt hatte.
Wenn sie es überlebte. Während ihr die Situation immer klarer bewusst wurde, wuchs ihre Überzeugung, dies würde ihr letzter Nachmittag sein. Wohin sie schaute, sah sie nur Rauch und Schnee und Bäume … und den Berghang, auf den der Helikopter herabgefallen war.
Mein Gott, dachte sie, wie in dem Film And I Alone Survived von 1978, über die Frau, deren Flugzeug abstürzte … War das nicht in der Sierra Madre? Und sie
musste den Berg hinabklettern und tagelang wandern, auf der Suche nach einem Telefon, um ihre Familie anzurufen und ihnen mitzuteilen, dass es ihr gut ging...
Verwirrt griff Lou in die Tasche ihres Parkas und nahm ihr Handy heraus.
»Sparen Sie sich die Mühe«, erklang Jacks ironische Stimme. »Das habe ich auch schon versucht. Hier gibt es kein Netz.«
Lou schüttelte den Kopf. Erbost starrte sie das winzige Display an. »Für diesen Mist zahle ich siebzig Dollar im Monat. Siebzig! Und funktioniert das verdammte Ding? Nein. Man fährt durch den Canyon. Nichts. Man stürzt in Alaska ab. Nichts. Und nicht mal meine Nachrichten kann ich checken«, fügte sie hinzu, nachdem sie mehrmals auf die Sendetaste gedrückt und das Handy an ihr allmählich gefrierendes Ohr gehalten hatte.
»Wollen wir wetten?«, schlug Jack boshaft vor. »Eine Ihrer Nachrichten stammt von jemandem, der Sie vor unserer Abreise erreichen wollte, um Ihnen einen dringenden Grund zu nennen, warum Sie nicht nach Myra fliegen sollten.«
Lou starrte ihn an. Langsam landeten Schneeflocken auf seinen breiten, in Leder gehüllten Schultern. Fror er? Sie fror jedenfalls, und sie trug einen Daunenparka, während er eine abgewetzte braune Lederjacke anhatte. Ungefüttert, soweit sie das feststellen konnte.
Wozu hätte er auch einen warmen Mantel gebraucht? Er hätte ja nur vom Flieger zu
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