Perfekte Manner gibt es nicht

schleuderte den Laptop in die Richtung des Hangs, den er hinaufsteigen wollte.
    Dann rieb er sich die behandschuhten Hände, als wollte er ihr bedeuten: So, das war’s.
    »Werfen Sie die Tasche weg, Lou. Gehen wir. Jetzt werden Sie viel schneller vorankommen, weil Sie ohne das schwere Ding nicht so tief im Schnee versinken …«
    Abrupt erstarb seine Stimme. Wahrscheinlich, weil er ihr Gesicht sah. Lou bezweifelte nicht, dass es so weiß war wie der Schnee ringsum. Noch nie im Leben hatte sie einen so wilden Zorn verspürt. Oder doch – vielleicht an dem Tag, wo Barry ihr erklärt hatte, nach zehn Jahren sei er noch nicht bereit für eine feste Bindung.
    Jetzt reagierte sie genauso wie damals, mit überwältigender, unkontrollierbarer Wut.
    » Sie… « , kreischte sie und warf sich auf Jack Townsend.
    Verwirrt sprang er zurück, so schnell, wie es der Tiefschnee zuließ. »Moment mal, Lou, seien Sie doch vernünftig. Das Ding war eine überflüssige Belastung.
Hier draußen nützt es Ihnen nichts, es hält Sie nur auf. Und wir müssen weitergehen …«
    Mehr brachte er nicht mehr über die Lippen, nur ein atemloses »Uff«, denn Lou rammte ihre Schulter in seinen Magen und warf ihn in den Schnee, so geschickt, wie ihre Brüder es ihr beigebracht hatten. Vor vielen Jahren waren sie der Meinung gewesen, dass ein gutes Tackling zur Ausbildung eines Mädchens gehörte. Sobald Jack am Boden lag, schwang sie ein Bein über seine Taille und saß auf ihm. Dann hielt sie mit beiden Händen seine Schultern fest, so wie Nick es ihr gezeigt hatte.
    »Sind Sie völlig bescheuert?«, schrie sie ihn an, das Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. »Dieser Computer war das Einzige, das meinen klaren Verstand gerettet hat. Begreifen Sie das? Ich habe Angst … ich bin hungrig … ich friere … und ich spüre meine Zehen nicht mehr … Und ich sitze in Alaska fest, in einem Schneesturm , mit Ihnen ! Alles ist nur Ihre Schuld! Suchen Sie den Computer! Sofort! Ich hoffe für Sie, dass er nicht kaputt ist. Sonst erschie ße ich Sie!«
    Jack schaute zu ihr auf, mit einer Miene, die maßloses Staunen ausdrückte. »Wissen Sie eigentlich, wie süß Sie sind, wenn Sie sich ärgern?«
    Einige Sekunden lang starrte sie ihn nur an und traute ihren Ohren nicht. Dann beging sie ihren ersten Fehler: sie ließ seine Schultern los, um ihre Hände um seinen blöden, egozentrischen, überprivilegierten Hals zu klammern.
    Leider war es nicht so einfach, jemanden zu erdrosseln, der so heftig lachte wie Jack Townsend. Insbesondere
weil er, als ihre Finger in die Nähe seines Halses gerieten, ihre Handgelenke packte und sie von seinem Körper runterschleuderte. Verstört lag sie neben ihm im Schnee.
    Und dann warf er sich auf sie. Statt ihre Schultern festzuhalten, umklammerte er ihre Handgelenke. Damit nahm er ihr die Möglichkeit, ihren Plan zu verwirklichen und ihre Daumen in seine Augen zu bohren. Stattdessen füllte er ihr ganzes Blickfeld mit seinem großen, attraktiven, lachenden Gesicht aus.
    Sie konnte sich nicht wehren.
    »Lassen Sie mich los!«, zischte sie. Es war wirklich unbequem, so hilflos dazuliegen. In den Kragen ihres Parkas drang eisiger Schnee, auch unter den Pullover und lief den Hals hinab. Inständig hoffte sie, in seinen Pullover würde genauso viel Schnee sickern. »Haben Sie mich gehört? Lassen Sie mich los !«
    »Wenn ich das täte, wäre ich ganz schön dumm, nicht wahr?«, entgegnete er und lachte noch lauter. Seine Zähne waren blendend weiß und ebenmäßig und hundertprozentig seine eigenen. Jeder einzelne. Diese Information verdankte sie ihrem Zahnarzt in L.A., der zufällig ein winziges Loch in Jacks Gebiss gefüllt hatte. »Sagten Sie nicht, Sie würden mich erschießen?«
    »Jack …« Plötzlich fiel ihr wieder der dunkle Rand um seine leuchtend blaue Iris auf. »Hören Sie, lassen Sie mich aufstehen, helfen Sie mir, den Computer zu suchen. Und dann lassen wir es dabei bewenden. Vorerst.«
    Während er über das Angebot nachdachte, kräuselte sich die gebräunte Haut rings um diese unbeschreiblichen
Augen. »Nein, Lou«, erwiderte er nach ein paar Sekunden. »Tut mir leid. Ihr Vorschlag überzeugt mich nicht. Soeben haben Sie ziemlich blutrünstig ausgesehen. Wenn ich Ihnen den Rücken zuwende, bohren Sie womöglich einen Eiszapfen in meinen Hinterkopf.«
    »Bitte, Jack …« Die Wärme seines Körpers ging auf ihren über. Zum ersten Mal an diesem Tag war ihr richtig warm. Ein angenehmes Gefühl. Zu