Performer, Styler, Egoisten
Egoismus und zur Anpassung erzogen wird. Was wir aber konstatieren müssen, ist, dass ihnen offensichtlich in den Bildungsinstitutionen wenig Anleitung zur kritischen Reflexion gegeben wird und der Jugend auch die Freiräume fehlen, in denen sie sich ohne Anleitung anderer ihres eigenen Verstandes bedienen kann. Die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen kann in den (Aus-)Bildungseinrichtungen weder entdeckt noch entwickelt werden. Anstelle dessen scheinen unsere Bildungsinstitutionen immer mehr zu Orten des blinden und verbissenen Fleißes zu werden, vor dem Adorno gewarnt hat. Denn ein solcher Ungeist, der die passive Aneignung von vorgegebenen Inhalten verlangt, „widerspricht der Bildung und der Philosophie, weil er von vornherein definiert wird von der Aneignung eines bereits Vorgegebenen und Gültigen, in der das Subjekt, der Lernende selbst, sein Urteil, seine Erfahrung, das Substrat von Freiheit abwesend sind“ (ebd.: 45).
Der Aufruhr der Ausgebildeten, eine Hoffnung
für die Zukunft?
Im Dezember 2010 übergießt sich in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der 26-jährige Mohammed Bouazizi mit Benzin und setzt sich in Brand. Ererliegt am 4. Januar seinen Verletzungen. Bouazizi, der als fliegender Obsthändler seinen Unterhalt verdient, entzündet sich selbst, weil ihm das Ordnungsamt den Straßenhandel untersagte und seine Wagen konfiszierte.
Mohammed Bouazizi wird zur Symbolfigur des Widerstands gegen das autokratische System von Präsident Ben Ali und in der Folge zum Auslöser einer landesweiten Protestbewegung, die zum Sturz des Präsidenten führt. Der Volksaufstand in Tunesien führt zu einer Kettenreaktion. Er leitete nicht nur den so genannten „Arabischen Frühling“ ein, sondern ist auch die Initialzündung für das Entstehen neuer Protestbewegungen in Europa, den USA und Lateinamerika. Selbst in China kommt es zu Protesten.
Die populärste Bewegung, die im Gefolge des Arabischen Frühlings entstand, war „Occupy Wallstreet“, der Aufstand der 99 Prozent gegen das politische System Amerikas, in dem „both parties govern in the name of the 1% of americans“ (Graeber 2012a: 37).
Ob nun die Indignados, die ihre Zelte in Madrid aufschlugen, die Israelis, die gegen den Wohnungswucher protestierten, oder jene, die im Zuccotti Park in New York campierten, überall waren junge Menschen tonangebend. Für Wolfgang Kraushaar bestand die Gemeinsamkeit des Arabischen Frühlings und der europäischen und amerikanischen Occupy-Bewegung im „Aufbegehren gegen die durch den herrschenden Neoliberalismus erzeugte Perspektivenlosigkeit der Jugend weltweit“ (Kraushaar 2012: 204). Und er bringt es weiter auf den Punkt: „Sie sind jung, sie sind qualifiziert, sie sind internetaffin, und sie sind perspektivlos. Es sind nicht nur die Kinder der letzten großen Finanzkrise, es sind die Kinder einer die Gesellschaft bereits seit langem durchdringenden Prekarisierung.“ (Ebd.: 208)
Aber warum hat die Sozialisation der Aufbegehrenden in Bildungsinstitutionen und bürgerlichen Familien deren Rebellion überhaupt zugelassen? Die meisten von ihnen waren angepasste junge Menschen, solche, wie sie heute an unseren Universitäten und Fachhochschulen aus- und eingehen, mit niedrigen Autonomieansprüchen und mit der großen Bereitschaft, mit blindem und verbissenem Fleiß den Weg zu gehen, den ihnen der enge Rahmen ihrer Studiencurricula vorgaben. Warum brachen sie plötzlich aus? Warum entschlossen sie sich, von angepassten Mitmachern zu rebellischen Nicht-Mitmachern zu werden? Der Hauptgrund dafür liegt wohl darin, dass ihnen der Lohn für Unterordnung, Selbstunterdrückung und Zurückhaltung verweigert wurde. Der pragmatische Individualist passt sich dann an, wenn er dafür persönliche Vorteile realisieren kann. Werden ihm diese Vorteile vorenthalten, steigt er auf die Barrikaden. Wir müssen also davon ausgehen, dass hier nicht, wenn auch mit Ausnahmen, die postmaterialistische, nach Freiheit und Selbstbestimmung gierende Autonomiebewegung auf der Straße war, sondern frustrierte junge Materialisten, denen der Staat durch Versprechungen der Politik im Wort war, aber dieses Wort nicht halten konnte oder wollte. Selbst von den Forderungen der „Aufständischen“ nach mehr nichtrepräsentativen Formen der Demokratie darf man sich nicht blenden lassen. Deren Ursprung ist keineswegs in irgendeiner Form idealistisch, denn „die Akteure fühlen sich mit ihren Sorgen und Problemen von
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