Performer, Styler, Egoisten
aktiv zu übernehmen. Für Klages ist das aktive Handeln der Menschen in gemeinschaftsbezogenen Verantwortungsrollen eine wichtige Voraussetzung dafür, die sie zur Wertesynthese befähigt, weil aktives Handeln in Verantwortungsrollen einerseits das Ausagieren von autozentrischen Selbstverwirklichungsbedürfnissen ermöglicht, andererseits aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit von gesellschaftlichen Institutionen und die Akzeptanz allgemeingültiger Normen befördert (vgl. ebd.: 149).
Das ambivalente Erbe der ’68er
Trotz des guten Klangs, den die postmaterialistischen Programmatiken nach wie vor in den Ohren der egozentrischen Individuen der Gegenwart haben, und der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz für die große Erzählung von der individuellen Selbstverwirklichung in gemeinschaftlicher Verantwortung, tritt immer stärker ein Diskurs in den Vordergrund, der auf die Ambivalenz des ethisch-moralischen Erbes der 1968er Bewegung verweist.
Diese Ambivalenz äußert sich im Gegensatz von positiv zu bewertender Demokratisierung der Gesellschaft in Folge der Durchsetzung von autozentrischen Werten der Selbstverwirklichung, die zu einer größeren Akzeptanz für die individuellen Bedürfnisse und Interessen der BürgerInnen von Seiten des politischen Systems geführt hat, und der negativ zu bewertenden Verstärkung von hedonistisch-individualistischen Tendenzen, die ein egozentrisches Individuum auszuprägen drohen, das sein Leben in erster Linie an Nutzen- und ästhetischen Selbstverwirklichungswerten ausrichtet. Im Zuge des postmaterialistischen Wertewandels, so die kritischen Kommentare zu einem sich mehr und mehr in puren Egoismus wandelnden Individualismus, beginnen sich Gemeinschaftsbindungen und kollektive Verbindlichkeiten zu lockern. Anstelle eng verbundener, langfristig stabiler Gemeinschaftsbeziehungen treten schwach gebundene soziale Netzwerke. Die Beunruhigung in den Sozialwissenschaften über diese Entwicklung ist zum Teil so groß, dass der deutsche Soziologe Ronald Hitzler in radikaler inhaltlicher Umkehrung der berühmten Aussage Immanuel Kants vom „Ausgang der Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1999: 20) die Notwendigkeit des „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Mündigkeit“ (vgl. Hitzler 1997) postuliert. Das „überbefreite“ Individuum soll sich wieder mehr in die Gemeinschaften zurücknehmen, weniger Energie in die Selbst- und mehr in die Gemeinschaftsverwirklichung stecken.
Neo-Materialismus und Ökonomisierung des Sozialen
Schon in den 1980er Jahren beginnt sich zudem eine Tendenz zu zeigen, die darin besteht, dass die weiter aufstrebenden Selbstverwirklichungswerte in eine enge Beziehung mit einem neuen Materialismus treten. Selbstverwirklichung ist damit nicht mehr länger im Kontext eines selbstlosen, idealistischen Engagements für eine bessere Gesellschaft zu sehen, sondern unmittelbar mit der persönlichen Vorteilsgewinnung durch die Aneignung von materiellen Gütern und Dienstleistungen verbunden. Es ist nicht mehr die selbstlose Tat, die Ansehen und Ehre verleiht, sondern der materielle Erfolg in Verbindung mit dem demonstrativen Konsum von statusbildenden Waren und Dienstleistungen. Anstelle des ideellen Lohnes durch ein Ehrenamt tritt in konsequenter Realisierung des Grundsatzes, dass Anerkennung im Kapitalismus allein durch Geld ausgedrückt wird, ein materialistisches Belohnungsprinzip, in dem das Geld zum wichtigsten vermittelnden Medium zwischen den Menschen und der Gemeinschaft wird. Wo es früher in Staat und Gesellschaft um die Ehre ging, geht es heute um Geld und Macht.
Hintergrund dieses sich den Werthaltungen der Menschen nachhaltig aufprägenden Materialismus ist das, was Heitmeyer als den Wandel der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft beschreibt (vgl. Heitmeyer 2007). Dieser Wandel bewirkt, dass sich die Imperative des Marktes in alle gesellschaftlichen Diskurse einschreiben. Was das für das Gemeinwesen bedeuten könnte, soll ein kurzer Blick auf den Gesundheitssektor zeigen. Dort werden zukünftig in erster Linie solche Behandlungen und Medikationen zugelassen werden, die nach einer volkswirtschaftlichen Logik zweckmäßig sind. So wird wohl einer Siebzigjährigen eben kein neues Hüftgelenk eingesetzt werden, da sie nicht mehr in der Lage sein wird, den in sie investierten finanziellen Aufwand durch volkswirtschaftlich relevante Leistungen zu refinanzieren.
Bestätigung für die Verallgemeinerung
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