Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
zurückgekehrt war?
Sie verharrte eine Weile und lauschte in die Nacht, als Otilie, die Pförtnerin, durch den schmalen Gang zwischen Refektoriumund Dormentbau den Innenhof betrat und im Ostgebäude verschwand.
Hastig wich Elysa zurück, drängte sich gegen die Mauer des Kreuzganges. Regungslos hielt sie inne, wagte nicht zu atmen. Durch die Arkaden sah sie die Priorin, die mit der Nonne das Gebäude wieder verließ und ihr über den Gang in den äußeren Bereich folgte.
Das erleichterte ihr Vorhaben. Wie ein Schatten huschte Elysa den Kreuzgang entlang bis hin zum östlichen Konventsbau, einem zweigeschossigen Gebäude, in dessen oberen Bereich auch die Zelle der Priorin lag. Als sie am Fenster der Krankenstube vorbei kam, bemerkte sie, dass noch Licht brannte. Durch einen Spalt am vorgestellten Rahmen sah sie Jutta, die in einer Schrift las. Neben ihr lag Ida, die sich fortan in der Krankenstube aufhalten sollte, bis man die Brandwunden einer weiteren Untersuchung unterzogen hatte.
Während Elysa weiter zur Treppe lief, die ins obere Geschoss führte, dachte sie, dass es vielleicht ein übertriebener Verdacht war, den sie gegen Jutta hegte. Aber sollte sie ihn fallenlassen, bevor sich erhärtete, dass es Agnes gewesen war, die den Mönch getötet und Margarete niedergeschlagen hatte? Waren all die Hinweise, die sich gegen die Priorin sammelten, Beweis genug? Noch immer vermochte Elysa auch Ida nicht aus dem Kreis der Verdächtigen zu entlassen. War deren Wissen um die geheime Verständigung wahrhaftig von Hildegard gewollt, hätte sie ihr dann nicht Weisung gegeben, es einzusetzen?
In Idas Fall jedoch musste Elysa das unklare Gefühl des Misstrauens beiseiteschieben. Ohne die Hilfe der Blinden kämen sie bei der Entschlüsselung der Schrift nicht voran. Doch sie wollte wachsam bleiben.
Leise schlich Elysa die Treppe hinauf, setzte jeden ihrer Schritte mit Bedacht. Rechter Hand lag das Dormitorium. Davor saßGudrun, die Nachtwache hatte, auf einem Schemel, dessen harte, unbequeme Fläche sie nicht davon abhielt, nach vorne gebeugt zu schlafen.
Aus dem Raum drang dumpfes Licht, man hatte eine Kerze aufgestellt, um über den keuschen Schlaf der Nonnen zu wachen. Doch wäre es der Glöcknerin ohnehin entgangen, ihren Schlaf hätte kein noch so unkeusches Vergehen geweckt, keine Hand unter der Decke, keine Leiber, die sich wärmend aneinander rieben. Was, so hatte man Elysa erzählt, gar nicht so selten vorkam, nicht nur bei den Mönchen.
Gudruns Atem ging tief und rasselnd, und Elysa setzte ihren Weg leise fort. An der anderen Seite des Ganges, an die Mauer der Kirche grenzend, lag die Zelle der Priorin.
Unschlüssig blieb sie vor der Tür stehen. Ein lautes Knacken fuhr plötzlich durchs Gebälk und trieb sie fluchtartig in die Zelle hinein.
Nur mit Mühe unterdrückte Elysa ein Keuchen, sie fasste sich mit der Hand an die Brust und wartete, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. Dann reckte sie vorsichtig das Gesicht aus dem Raum und sah nach draußen auf den Gang.
Gudrun saß unverändert an ihrem Platz und hatte nun begonnen, leise zu schnarchen. Elysa schloss die Tür.
Es dauerte eine Weile, ehe sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die in diesem Raum übermächtig zu sein schien. Die Zelle war groß, zweifellos hatte man der Priorin ein Privileg zugestanden, als man ihr einen eigenen Bereich überließ.
An der Stirnseite stand ein Schreibpult. Es war jener Tisch, an dem die Priorin gesessen hatte, als sie Clemens und Elysa am Tag der Ankunft begrüßte.
Elysa besah sich die Oberfläche des Pultes, strich mit den Händen darüber. Dort lagen Federkiele und ein Bimsstein, genau, wie Ida berichtet hatte. Auch ein Pergament, doch es war ein Brief,noch nicht beendet. Elysa beugte sich darüber, um den Inhalt zu lesen. Vergebens, es war zu dunkel.
Das Stück des gesuchten Pergaments war indes nicht zu entdecken, natürlich, sie hätte es sich denken müssen. Auch nicht unter dem Tisch oder verborgen an der Unterseite des Stuhles. Hatte Agnes es Radulf von Braunshorn anvertraut?
Elysa ging zur Fensteröffnung und nahm den pergamentbespannten Rahmen ab, um ein wenig Licht hereinzulassen. Sofort drang nasskalte Luft in den ohnehin klammen Raum. Elysa rieb sich fröstelnd die Hände, dann fuhr sie mit der Untersuchung fort.
An der rechten Seite der Wand war ein Stück Stoff vor eine Nische gehängt, in der sie das Bett der Priorin vermutete. In der Tat, dort befand sich ihr Nachtlager. Kein
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