Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
strich. »Der Herr hatte ein Einsehen, nie wieder werde ich derart töricht sein!«
Ein Geräusch vom Eingang der Schreibstube ließ sie herumfahren. Am Ende der Wendeltreppe stand Ida, klein und buckelig. Wie lange stand sie schon da?
In den letzten Tagen war so viel Beunruhigendes geschehen, dass Elysa zunächst erschrocken innehielt. Doch es war nicht mehr dieselbe Ida, die sie einst so harsch gemaßregelt hatte. Etwas war mit ihr vor sich gegangen, seitdem sie das glühende Eisen trug – es war eine weit liebenswürdigere Ida, die ihnen nun entgegen kam und ein äußerst besorgtes Gesicht machte.
Ida hatte, als sie die Krankenstube auf dem Weg zum Skriptorium verlassen wollte, ein kurzes Gespräch zwischen der Priorin und Radulf von Braunshorn mit angehört, die sich im Kreuzgang leise über eine Botschaft aus Mainz unterhielten. Was sie hörte, war nicht viel, doch es reichte aus, um zu erfahren, dass jemand Priorin und Exorzisten davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass Clemens von Hagen eigenmächtig ermittelte und Elysa von Bergheim sich unter falschem Ansinnen im Kloster aufhielt.
Ida war empört über derartige Anschuldigungen, doch nochmehr empörte es sie, als sie nun erfuhr, dass diese scheinbar abwegige Nachricht der Wahrheit entsprach.
»Das erklärt so manches«, sagte sie barsch. Die Wut über die Täuschung war ihr ins Gesicht geschrieben. »Wie konntest du das tun?«, spie sie Elysa entgegen. »Nur ein gottloser Mensch erdreistet sich der Lüge! Wer lügt oder täuscht, ist vom Teufel verführt, denn der Teufel war von Beginn an ein Lügner.«
»Ich habe die Menschen um der Gerechtigkeit willen belogen, doch nie äußerte ich eine Lüge vor Gott!«, versuchte Elysa sich zu verteidigen.
»Wie kann das sein, stehst du doch hier, in seinem Kloster, in einem Ordensgewand der Benediktinerinnen?«
Elysa spürte heiße Wut in sich aufsteigen und konnte nicht umhin, sie Ida entgegenzuschleudern. »Ich will nichts mehr über die Lüge hören! Ich, die ansonsten immerzu gottgefällig handele, bin dazu angetreten, das Vermächtnis der seligen Hildegard zu retten, und dafür war leider eine Lüge vonnöten. Glaube mir, auch ich habe gehadert und im Stillen um Abbitte gefleht, doch ich habe eingesehen, dass meine Seele nur wenig wiegt gegen das Verbrechen, das man hier zu vertuschen sucht.« Sie senkte die Stimme. »Du, Ida, sollst nun entscheiden, ob du mich dafür verurteilen willst und damit das Vermächtnis dem Teufel anheimfallen lässt oder ob du gewillt bist, mir diese Täuschung zu verzeihen und an der Rettung der letzten Vision mitzuarbeiten!«
Noch nie hatte sie Ida derart sprachlos gesehen. Aufgebracht standen sie sich gegenüber, Elysa mit geballten Fäusten. Dann aber, als hätten sie nicht soeben einen lautstarken Streit ausgetragen, begann sich die Verbitterung im Antlitz der blinden Nonne aufzulösen. Sie trat in den Raum, tastete nach einem Pult, setzte sich und bat, die soeben erwähnte Schrift zu bringen und ihr zu helfen, die Zeichen mit dem Finger nachzufahren.
Margarete, die den Disput mit sorgenvoll gerunzelter Stirn beobachtet hatte, bot sich eifrig an. Sie hob das Fragment gegen das Licht der Laterne, nahm Idas verbundene Hand und zeichnete mit dem freiliegenden Zeigefinger die Linien der unbekannten Schrift nach, die auf dem Pergament zu sehen war.
Augenblicklich erhellten sich Idas Gesichtszüge. Sie lächelte versonnen. »Dieses Wort bedeutet Clainzo , das Kloster. Und dieses hier Tochter. Dort bricht das Wort ab, es könnte aber Crizia heißen, Kirche.«
Margaretes Wangen röteten sich, wie so oft, wenn innerer Aufruhr ihr Blut erhitzte. »Als der Mönch das Kloster betrat, ist er sogleich auf das Westportal der Kirche zugestürzt. In der Erinnerung ist es mir, als erwartete Adalbert, dort etwas zu finden. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie der Wind ihm die Kapuze vom Kopf riss und die Nonnen schreiend auseinanderstoben.«
Sie fuhr fort, Idas Finger zu führen.
»Dieses Wort kann ich nicht lesen. Bitte noch einmal zurück, ja, nun wird es klarer, weiter.« Idas Finger glitt über die Zeichen, während sie zugleich versuchte, deren Sinn zu erfassen. »Eine Vision oder eine Schrift, die Zeichen sind an dieser Stelle recht undeutlich. Diese Vision oder Schrift muss in der Kirche verborgen sein. Dort, wo man Limix , dem Licht, nahe ist.« Ida lächelte wieder. »Ein Rätsel. Hildegard liebte es, sich Dinge auszudenken, die man mit dem wachen Verstand nicht
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