Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Chorordnung ganz an den Rand gesetzt, um nun unbemerkt aufzustehen und zu ergründen, an welcher Stelle des Saals der Schall des gesprochenen Wortes am lautesten erklang. Doch je weiter sie sich entfernte, desto undeutlicher wurde er. Selbst wenn das Dach des Seitenschiffes intakt gewesen wäre, die Worte, die Humbert von Ulmen vorne sprach, verliefen sich in Richtung des Westportals.
Was hatte Hildegard damit gemeint, als sie schrieb, die Vision sei dort, wo man den Worten des Lichts nahe war? Hildegard hatte die Worte des Allmächtigen überall empfangen. Diese heiligen Worte waren auf sie in der Schreibstube gekommen, genauso wie auf dem Felde, beim Wandeln im Kreuzgang oder beim Nähen im Handwerksraum. Die Botschaft aber sprach von der Kirche.
Ida hatte am Tag zuvor Bilder des Lichts empfangen, gleich einer Sehenden. Das Licht war durch das offene Dach gefallen, alssie ihre Hände zum Himmel erhob. Diese Stelle war vor dem Brand gleichwohl verschlossen. Hatte die Prophetin an die Fenster oberhalb der Arkaden des Saalbaus gedacht, die das Licht auf eine ganz besondere Art zu brechen vermochten? Doch das Licht war es nicht alleine, es waren die Worte des Lichts, von denen die Prophetin schrieb. Worte des Lichts, Posaunenschall. Wie der Chor der Nonnen, die nun ihre Stimmen zum Hymnus des Ambrosius erhoben.
Margarete seufzte. Sie hatten zunächst an die Orte gedacht, an denen sie dem Herrn am nächsten waren, an den Altar und das große Kreuz. Noch vor den Vigilien, der in der Nacht begangenen Morgenfeier, hatten sie sich dort umgesehen, doch nichts entdecken können. Kein neues Pergament, keine weitere Botschaft.
Nach den Vigilien waren Ida und Margarete im Kreuzgang gewandelt und hatten leise über den Hochmut gesprochen, derer sie sich erinnern sollten. Der Hochmut als Beginn aller Laster, der den Engel aus dem Himmel stürzte und den Menschen aus dem Paradies vertrieb. Doch welchen Hinweis konnten sie dem entnehmen?
Margarete schüttelte zweifelnd den Kopf. Es wollte sich in all diesen Überlegungen kein Zusammenhang erschließen. Hatte Ida die Worte richtig erkannt? Die Schrift war klein. Zu klein, um die fremden Buchstaben frei von Abweichungen nachzuzeichnen? Noch dazu hatten sie das Pergament beim Entschlüsseln in die Höhe halten müssen, um die Schrift mit dem Licht im Rücken erkennen zu können. Auch fehlte ein wichtiger Teil der Botschaft, das entrissene Stück würde vermutlich die Wörter enthalten, die all ihre Fragen zu klären vermochten.
Posaunenschall … Margarete stockte.
»Danach schaute ich – und siehe: Eine Tür wurde am Himmelspalast geöffnet. Und die Stimme, die ich früher wie Posaunenschallvernommen hatte, sprach zu mir.« Hildegard hatte sich oft als Posaune bezeichnet, die den Ton zwar erklingen ließ, ihn aber nicht hervorbrachte. Denn der Allmächtige blies hinein, damit sie ertöne.
»Der Hildegardisaltar!« Margarete wandte sich dem Teil der Kirche zu, an dem sie der seligen Hildegard gedacht hatten, bevor das Feuer ihn beinahe zerstörte. Hier, in der Altarnische des südlichen Seitenschiffs, stand noch der Steinblock, auf dem der Tag der Altarweihe eingemeißelt worden war. Vor dem Brand war er versehen mit dem Reliquienschrein, der vor der Plünderung Fingerknochen, Zungenpartikel und einen Strang des Haupthaares der Prophetin enthalten hatte. Außerdem hatte hier einst das Tafelbild der Meisterin gestanden, das aus Schutz vor dem Regen zunächst in die Krypta gestellt und dann, als das Wasser die Krypta überschwemmte, in den engen Glockenturm gebracht worden war.
Margarete besah sich die Inschrift mit dem Datum der Altarweihe. Dann kniete sie sich davor, betrachtete die grob verputzte Nischenwand, den Steinboden. Nichts. Nicht eine Stelle gab einen Hinweis auf das Rätsel, gleichwohl es nicht hell genug sein mochte, um alles erkennen zu können, was erkannt werden wollte.
Während die Lobgesänge im Ostteil der Kirche verklangen, stand Margarete auf und reckte den Kopf zum offenen Dach, sah in den Nebel, der das Morgenlicht verhüllte.
Sie dachte an das Altarbild der Meisterin, auf dem das hell strahlende Licht ihr Antlitz umströmte, und erschrak über einen unverständlichen Gedanken. Warum hatte man das Bild in den Glockenturm gebracht und nicht in die Sakristei? Niemand hatte es in Frage gestellt.
Elysa hatte recht gehabt. Sie folgten, ohne zu hinterfragen, gemäß den Regeln des heiligen Benedikts. Was aber, wenn manerkannte, dass derjenige, dem man zu
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